Sie streiten sich! Oh Gott, sie streiten sich!
Die nationalistische Greifenhagener Kreiszeitung klagt über den vermeintlichen Verfall der politischen Sitten. Die Regierungsparteien zerstreiten sich untereinander. Preußischen Sozialdemokraten stehen gegen die SPD-Fraktion der Nationalversammlung und auch die sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder in der preußischen Regierung sind zerstritten. So stellt sich das Blatt eine effektive Politik nicht vor, wobei es zwischen Wehklagen und Häme schwankt. Dass politische Streitigkeiten der beschriebenen Art zur parlamentarischen Demokratie dazugehören, scheint als Erkenntnis noch nicht in der Kreiszeitung angelangt zu sein.
Volltext:
Bruderzwist.
Es hilft alles nichts: der Streit inmitten des deutschen Volkes frißt immer weiter um sich, so viel auch zu Einigkeit und Verträglichkeit, zur Sammlung aller Kräfte an Stelle ihrer unausgesetzt fortschreitenden Zersplitterung und Lähmung ermahnt wird. Selbstverständlich, daß die revolutionären und die nicht revolutionären Parteien einander ständig in den Haaren liegen - wer hätte in dieser Beziehung jemals etwas anderes erwartet? Selbstverständlich auch, daß die Mehrheitssozialisten und die Unabhängigen in intensivster Feindschaft verharren, weil der Wettbewerb um die Gunst der Massen keinerlei Unbefangenheit zwischen ihnen aufkommen läßt. Aber weniger naturnotwendig schien vielen schon der Zerfall der Mehrheitsparteien, der Austritt der Demokraten aus dem Regierungslager, der die Tonart unter den ehemaligen Kampfgenossen auch nicht gerade verbessert hat. Nun blieb nur noch übrig, daß Sozialdemokraten und Zentrum sich verkrachen, und als äußerste Stufe der Vollendung, daß die mächtig ins Kraut geschossene Sozialdemokratie in ihrem eigenen Schoße das Zanken bekam. Und siehe da: auch dieses Schauspiel dürfen wir bereits genießen. Alle Möglichkeiten selbstmörderischer Entzweiung sollen, so scheint es, in Deutschland bis auf den letzten Rest ausgeschöpft werden.
Zunächst also die Sozialdemokratie und das Zentrum. Als man sich noch in Preußen - und anderswo - über die Absonderungsgelüste der Rheinländer entrüstete, bei denen namhafte Zentrumsführer in Köln und Koblenz und Aachen an der Spitze standen, da mußten diese sich von ihren sozialdemokratischen Nachbarschaften die schärfsten Wahrheiten sagen lassen. Jetzt können sie den Spieß umdrehen, denn kein geringerer als der sozialdemokratische Ministerpräsident von Hessen [Carl Ulrich, Anm.] hat - es ist unglaublich, aber es ist leider nackte Tatsache - mit dem General Mangin über die Gründung einer großhessischen Republik verhandelt, in die auch preußische Landestteile einbezogen werden sollen. Darüber ist es bereits in Weimar, hinter den Kulissen, zu sehr erbaulichen Auseinandersetzungen gekommen. Herr Ulrich wurde dort sehr kräftig ins Gebet genommen, und es scheint, daß er für die Zukunft Besserung gelobt hat. Am Mittwoch mußte er indessen auch den Zorn der preußischen Landesversammlung über sich ergehen lassen. Es wurde ihm vorgehalten, daß er sich offenbar von den Franzosen nach allen Regeln der Kunst habe einseifen lassen, und das Zentrum sprach von der doppelten Moral der Sozialdemokratie, die genau das gleiche tue, was sie anderen Leuten eben erst mit der größten Entrüstung zum Vorwurf gemacht habe. Die Regierung versäumte natürlich nicht, auch vor diesen Absplitterungstendenzen mit allem Nachdruck zu warnen. Wenn sie auch davon überzeugt sei, daß die hessischen Herren nicht die Absicht gehabt hätten, die Hilfe der französischen Besatzung für die Losreißung preußischer Gebietsteile in Anspruch zu nehmen, so müßte sie doch schon in der bloßen Erörterung solcher Pläne vor einem französischen General mindestens einen schweren Mißgriff sehen. Der Reichsministerpräsident [Gustav Bauer, Anm.] habe den Wunsch geäußert, daß solche Fragen nicht wieder vor den Augen der Ententebesatzung berührt werden möchten. Herrn Ulrich werden die Ohren geklungen haben. Aber auch dem hessischen Zentrum, von dem in der gleichen Sitzung behauptet wurde, daß es eifrig an den Abtrennungsbestrebungen beteiligt sei. Wie die Stimmung zwischen den Regierungsparteien gegenwärtig ist, beweist ein Ausspruch des Mehrheitssozialisten Weber, der erklärte, denjenigen Kollegen zustimmen zu müssen, die da sagten: wer sich in die Hände des Zentrums begibt, der ist verloren. Auch bei seiner Partei gebe es eine Grenze, wo sie sagen müsse: Regiert Ihr allein, uns ist der Geschmack am Regieren verdorben. Zum Überfluß fügte dann auch noch ein demokratischer Redner aus dem Westen dazu, daß das Zentrum in den Rheinlanden Landesverrat treibe, und ein Unabhängiger leistete sich gar den Scherz, die Zentrumsherren als "die schwarzen Spartakisten" zu kennzeichnen. Allerdings, die Sache ist viel mehr angetan zum Weinen als zum Witzemachen.
Aber ist hier ein sozialdemokratischer Ministerpräsident vor aller Öffentlichkeit durch einen anderen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten abgekanzelt worden, so sind wir damit doch noch lange nicht am Ende. Jetzt kommt erst noch der eigentliche Bruderzwist im sozusagen wörtlichsten Sinne: die sozialdemokratische Fraktion in Preußen sagt der sozialdemokratischen Fraktion in Weimar den Kampf an wegen des Schulkompromisses mit dem Zentrum. Herr Heine, der Minister des Innern, sucht über dieses auch ihm offenbar sehr unwillkommene Kuhhandelswerk mit der Bemerkung hinwegzugleiten, Reichsrecht gehe nun einmal vor Landesrecht. Indessen sein Kollege Haenisch scheint die Sache etwas ernster aufzufassen. Er hat der Fraktion sein Ministeramt zur Verfügung gestellt, da er die Bindung des Kompromisses, bis zum Erlaß eines Reichsgesetzes die konfessionellen Schulen in Preußen unverändert fortbestehen zu lassen, unter keinen Umständen mitmachen könne. Unter keinen Umständen - das klingt recht kriegerisch, und die Preußenfraktion wird damit vor eine heikle Entschließung gestellt. Zwist und Zerfall, wohin wir auch blicken - anders läßt die Gesamtlage in Deutschland sich heute auch beim besten Willen nicht kennzeichnen.
Quelle:
Greifenhagener Kreiszeitung Nr. 85 vom 24.7.1919
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/kalender/auswahl/date/1919-07-24/26824255/
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagsgeb%C3%A4ude#/media/Datei:Reichstag_Sitzungssaal_1903a.jpg