Den Menschen ist das Rechtsgefühl abhanden gekommen!
Klemperer beklagt das fehlende Rechtsgefühl der Menschen und gibt Alltags-Beispiele. Zudem berichtet er von den Fortschritten an seinem Vortag über die "Romantik". Auch seine Frau Eva beschäftigt ihn. Alles wie immer.
Volltext:
Freitag 13. Juni, Morgens 9 Uhr.
Victor-Hugo-Colleg: »Was ist Romantik?« gestern u. schon heute früh gearbeitet; es soll heute fertig werden. Im roman. Seminar über Montesquieu Hettner nachgelesen, Vinet durchblättert – ohne neue Belehrung ... Au Bonheur des Dames vorgelesen. – In großer Hitze bei Zahnarzt u. Deutscher Bank, Abends vergeblich bei M.'s u. im Caféhaus. -
Den Menschen aller Parteien ist das Rechtsgefühl ganz abhanden gekommen. Eine biedere gutmütige gebildete Dame, ein Frl. Prantl, erklärt bei Tisch mit Überzeugung: Graf Arco, der Mörder Eisners, müsse freigesprochen werden, er habe ja eine Befreiungstat vollzogen, Hans M. nennt den Geiselmord berechtigt, Frau Dr. Sobat verteidigt Leviné, selbst wenn er Anstifter des Geiselmordes sei, sei er kein Mörder; wer nur anstifte, beweise, daß er selber nicht töten könne! - [...]
12 Uhr Nachts (13/6)
Die selbständige Einleitung »Romantik« ist fast ganz fertig und nicht schlecht geworden. Nicht sehr originell, aber doch gut zusammengestellt und fest disponiert ... Gegen Abend zum »deutschen« Thee bei Munckers. Übliche Langeweile. Wenig Menschen u. nichts von Bedeutung darunter. Das Haus wird altersmüde ... Nach dem Abend seit langer Zeit wieder einmal Gesang bei uns. Schließlich gegen 11 Uhr mit Frau Dr Sobat noch ein paar Minuten ins Stephanie und etwas Bier getrunken. Jetzt copiert Eva noch eine theoretische Musikarbeit. Die Zeit, wo ich ihr meine Sachen dictierte, wo sie ganz meiner Arbeit verknüpft war, liegt ferne. Es ist eine sehr egoistische Sehnsucht, die ich danach habe. Besser ging es mir damals doch. Aber ich muß mir immer wieder vorbeten, daß ich E's eigene Entwicklung nicht hemmen, sie nicht für mich ausbeuten darf. Ein bißchen einsamer freilich bin ich durch die Orgel geworden. Wiederum: was finge Eva jetzt ohne ihren eigenen Beruf an, wo sie keinen Haushalt hat ...
Quelle:
Nowojski, Walter (Hrsg.), Victor Klemperer. Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918 - 1924, Berlin 1966, S. 125.
Bild:
https://en.wikipedia.org/wiki/Victor_Klemperer#/media/File:Gedenktafel_Weimarische_Str_6a_Vicktor_Klemperer.JPG