Frieden trotz alledem
In einem Leitartikel setzt sich Georg Bernhard mit dem Friedensvertrag auseinander. Besonders die Bestimmungen über eine mögliche Anklage des Kaisers findet er entwürdigend. Die Entente wolle wohl den Schauprozess gegen Napoleon wiederholen und Wilhelm auf St. Helena verbannen. Wäre aber Deutschland nicht so uneins gewesen, hätte die Härte des Vertrages wohl gemildert werden können. Daher ruft Bernhard die gemäßigten Parteien auf, das Streiten sein zu lassen.
Volltext:
Der frühere Reichskanzler von Bethmann Hollweg hat durch den französischen Ministerpräsidenten Clemenceau als Vorsitzenden der Friedenskommission den alliierten und assoziierten Mächten das Verlangen unterbreiten lassen, das gegen den früheren deutschen Kaiser beabsichtigte Prozeßverfahren statt gegen diesen gegen sich stattfinden zu lassen. Bethmann Hollweg beruft sich dabei auf die Artikel der alten Reichsverfassung, die die Souveränität des Kaisers und die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers umgrenzten. Diese ritterliche Handlung zeigt in Blitzlicht dem deutschen Volke noch einmal Charakter und Wirken dieses Mannes, der in schicksalsschwerster Stunde die politische Steuerung Deutschlands geführt hat: eine seltsame Mischung von literarischem Pathos, ritterlicher Geste und unpolitischer Verkennung historischer Zusammenhänge. Er betrieb die äußere Politik des Reiches aus dem Gesichtskreis eines gebildeten, seiner schweren Verantwortung stets bewußten Verwaltungsbeamten, dem der Tatbestand der Akten und die Bindungen des formalen Rechts heiligste Grundlagen jeder Urteilsfindung sind. Aus dieser Anschauung heraus glaubt er wirklich auf die Ententemächte (die Entente scheint trotz des Friedensschlusses als Sonderbündnis weiter bestehen zu sollen) Eindruck zu machen mit dem Hinweis auf die Paragraphen des deutschen Staatsrechts. Das erinnert lebhaft an einen Vorfall, der sich am 9. November im Berliner Reichskanzlerpalais abspielte. Als Ebert und Scheidemann nach der Proklamierung der deutschen Republik in der Wilhelmstraße erschienen und den dort versammelten Ministern schonend beibrachten, daß sie zurücktreten müßten, weil Revolution sei und die Truppen den Anschluß an die neuen Machthaber erklärt hätten, da verlangte einer der Minister des Kabinetts Max von Baden allen Ernstes einen Beleg, einen Aktennachweis für das Vorhandensein der Revolution als Vorbedingung seiner Rücktrittserklärung. Eine gleiche Gesinnung darf man von den Staatsmännern der Entente nicht erwarten. Selbst wenn die Frage der Verantwortlichkeit eines Monarchen für historische Vorgänge auch dem Ausland gegenüber mit der staatsrechtlichen Satzung erschöpft wäre, so würde das die Feinde Deutschlands sehr wenig kümmern. Ein so belesener Mann wie Bethmann Hollweg sollte doch heute die historische Parallele zudem begreifen, was die feindlichen Staatsmänner - die englischen in erster Linie - vorhaben. Der Napoleon-Prozeß soll in zweiter Auflage über die Weltbühne gehen. Nicht so sehr als ein Akt der Rache, sondern vielmehr als ein Akt der Rechtfertigung der Politik der Feinde Deutschlands vor der Welt und ihren eigenen Völkern. Es soll nicht nur, nein es muß vor der Welt bewiesen werden, daß der Feldzug gegen Deutschland und seine Verbündeten ein heiliger Krieg gewesen ist zur Wahrung der Ruhe der Welt gegen einen großen Friedensstörer. Deshalb ist auch nicht nur die Person des Angeklagten nicht mehr auswechselbar, sondern es ist auch der Ausgang des Prozesses bereits vorausbestimmt. Fürwitzige Journalisten haben ja schon ausgeplaudert, daß nicht das Recht, sondern die Moral die Grundlage der Verhandlungen bilden, und daß die Strafe die Unwürdigkeitserklärung der Hohenzollern und die Verbannung des Kaisers - St. Helena! - sein wird. Die Mächte, die Deutschland jene Paragraphen aufgezwungen haben, wissen eben ganz genau, daß bei der Führung eines Rechtsprozesses auch die schärfste Untersuchung Kaiser Wilhelm niemals nachweisen könnte, er habe den Krieg gewollt. Denn das behaupten nicht einmal die rötesten Republikaner in Deutschland von ihm. Aber darauf kommt es den Gegnern auch gar nicht an, und deshalb wirkt der Vorschlag Bethmann Hollwegs so weltfremd.
Freilich nicht weltfremder als das Verhalten derjenigen, die über den Friedensvertrag mit Deutschlands Feinden unterhandelten. Auch diese Männer haben sich von deutschen Sentimentalitäten und deutschem Rechtsbewußtsein nicht genügend loslösen können. Sie pochten auf die staatsrechtlich unbestrittene Tatsache, daß der Monarch durch die verantwortlichen Minister gedeckt gewesen ist, und auf den Beweis, daß jedermann in Deutschland von der persönlichen Friedensliebe des Kaisers durchdrungen war. Sie ließen außer Betracht, was leider so viele Deutsche vergessen, daß im Ausland durch die jahrelange Aufpeitung der Volksleidenschaften Wilhelm II. als der Alleinschuldige galt. Sie übersahen vor allem, daß von den Drahtziehern der internationalen Preßkampagne diese Schuldauffassung mit Vorbedacht deshalb erzeugt war, um schließlich als stürmische Forderung des so gefälschten Rechtsbewußtseins die Auslieferung des Kaisers zu verlangen und den Prozeß gegen ihn als Ausdruck des Urteils der Weltgeschichte führen zu können. [...]
So aber leben Reich und Volk noch trotz dieses Friedens. Und nunmehr sollte doch endlich an Stelle der gegenseitigen Verhetzung der Versuch eines Sichzusammenfindens treten. Ganz rechts und ganz links mögen sich für lange noch nicht beruhigen können. Aber alles, was dazwischen steht - von sehr weit links bis sehr weit rechts - sollte doch wenigstens einmal den Versuch machen, gemeinsame Grundsätze für den Aufbau zu finden. Jedem mag die Hoffnung bleiben, in der Zukunft einmal ganz recht zu bekommen, wenn er sich nur in der Gegenwart damit bescheiden wollte, eine Abschlagszahlung zu erhalten. Ist es doch jetzt das letzte Stündlein, in dem die Besinnung vielleicht noch vor dem Abgrund retten kann.
Quelle:
Vossische Zeitung Nr. 326 vom 30.6.1919 (Abend)
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/kalender/auswahl/date/1919-06-30/27112366/
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Bernhard#/media/Datei:Bundesarchiv_Bild_102-06068,_Georg_Bernhard.jpg