Habe ich ein Vaterland, und wenn ja wie viele?
Die politischen Unruhen gehen auch an der größten Organisation des deutschen Judentums - dem Centralverein - nicht vorüber. Auf seiner diesjährigen Hauptversammlung versuchen die Delegierten Antworten auf die großen Fragen der Zeit zu finden. Neben der Gefahr des wachsenden Antisemitismus beschäftigt die Versammlung vor allem eines: Welches Verhältnis haben wir zum Zionismus?
Volltext:
Hauptversammlung des Centralvereins.
(Vorläufiger Bericht.)
Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens hielt am Donnerstag, den 29. Mai, in Berlin in den Räumen der Bne Brithlogen seine Hauptversammlung, die erste nach dem Kriege, ab. Am Tage vorher hatten im Kreise der zahlreich erschienenen Abgeordneten interne Vorbesprechungen stattgefunden.
Der Vorsitzende, Geheimer Justizrat Dr. Eugen Fuchs, begrüßte die sehr stark besuchte Versammlung mit einer markigen Ansprache.
Wir sind, so führte er aus, zu einer Zeit versammelt, die unser Sorgen und Denken gefangennimmt in der Not unseres Vaterlandes. Wenn in den gegenwärtigen Tagen sich Deutsche versammeln, schließen die Hände und Herzen sich zusammen in dem Gelöbnis, in den Tagen des Unglücks treu zu stehen zum deutschen Vaterlande. Mit diesem Bekenntnis beginnen wir unsere Arbeit. Dieses Bekenntnis soll als Wahlspruch unsere Arbeit lenken und uns die Kraft geben, auszuharren und aufzubauen. – Die Versammlung hatte sich von den Plätzen erhoben und stimmte dem Gelöbnis mit lebhaftem Beifall zu. Der Vorsitzende streifte dann die ständig wachsende antisemitische Hetze, und verlas einige bezeichnende Proben. Eine starke Regierung sei notwendig, sonst könnte es auch bei uns noch zu Pogromen kommen.
Syndikus Dr. Holländer berichtete über das Thema „Unsere Lage und unsere Arbeit“.
Er zählte die stattliche Reihe von alten und neuen antisemitischen Vereinigungen auf und folgerte daraus die Notwendigkeit umfassender Organisation der Juden. Die Bekämpfung des Antisemitismus sei ein Dienst an der Wahrheit. Auch von verantwortlichen Stellen gingen Judenbeschimpfungen aus. Der Redner schilderte den Fall des Generals von Wrisberg und verlas die Antwort Noskes auf die Beschwerde des Centralvereins. Der Reichswehrminister habe kein Wort des Bedauerns für die Veröffentlichung Wrisbergs im „Militärwochenblatt“, die den Geist des Mittelalters atme, gefunden. An der Spitze der Regierung stehen andere Männer; aber die Räte sind noch judenfeindlicher geworden. Der Vorsitzende der deutsch-nationalen Volkspartei, der ehemalige Minister Hergt, habe von den Juden verlangt, daß sie durch ihr Verhalten und durch von ihm zu bringende Opfer, (Heiterkeit) erst zeigen müßten, daß sie würdig seien, zur deutschnationalen Volkspartei zu gehören. Unser Kampf um die Gleichberechtigung und Gleichachtung sei nicht weniger ein Kampf um das Deutschtum, als ein Kampf um das Judentum. Er ist im höchsten Maße positive Arbeit und die notwendige Grundlage für jede weitere Wirksamkeit. Wir wollen uns weder von den Antisemiten noch von den Nationaljuden [d.i. die Zionisten, Anm.] nachsagen lassen, daß wir Fremde in Deutschland seien. Wir sind mit ganzer Seele im Deutschtum verankert. Mit der eindringlichen Mahnung, in den Gemeinden die Ortsgruppen bis zum letzten Mann und zur letzten Frau zu organisieren, schloß der Redner seine Ausführungen, die einmütig so starken Beifall fanden, daß beschlossen wurde, von einer Debatte abzusehen.
Dr. Strauß-Frankfurt a.M. und Rechtsanwalt Dr. John Wertheim-Berlin referierten über die jüdische Kongreßfrage.
Beide Referenten traten für einen Kongreß der deutschen Juden ein. Der erste Redner wandte sich gegen den vieldeutigen Zionistenbegriff des jüdischen Volkes. An der Arbeit für Palästina als ein Siedlungsgemeinwesen können und sollen wir uns beteiligen. Dr. Wertheim beschäftigte sich vorwiegend mit dem Wahlrecht zum Kongreß, zu dem nur deutsche Staatsbürger zugelassen werden sollten. Er glaube nicht, daß die Zionisten an dieser Frage den allgemeinen Kongreß scheitern lassen werden, da ihnen daran liege, ihre Forderungen vor dem allgemeinen Forum der deutschen Juden zu vertreten. Die Einberufung des Kongresses müßte später erfolgen, gegenwärtig ständen die schweren Sorgen Deutschlands im Vordergrunde.
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Prof. Lewin bedauert, daß die Versammlung anscheinend einen antizionistischen Standpunkt einnehme. Das würde die zionistischen Mitglieder zum Austritt zwingen. Ein Bekenntnis zum jüdischen Volke könne staatsbürgerlich keinen deutschen Juden schaden. Der Redner bringt eine Resolution ein, wonach die Zugehörigkeit zum jüdischen Volke keine Beeinträchtigung der vollen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung zur Folge haben dürfe.
[…]
Rabbiner Dr. Goldmann-Leipzig: Man kann nicht zwei Vaterländer haben. Nationale und staatsbürgerliche Gesinnung müssen zusammenfallen. Eine reinliche Scheidung sei notwendig, auch wenn sie einigen Schaden bringen sollte. Kompromisse mit den Zionisten führen zu Gefahren. (Lebhafter Beifall.)
Justizrat Dr. Cohn-Dessau. Die Zionisten wollen uns dem deutschen Vaterlande und der Kultur entfremden. Man kann nicht gleichzeitig deutschnational und jüdischnational sein. Das geben auch zionistische Führer zu. Eine antisemitische Hetze stärkerer Art sei zu befürchten; u.a. auch deshalb, weil spartakistische Führer Juden seien. Anstatt daß wir jetzt Zurückhaltung üben, richten die Zionisten ein Fanal auf: Ihr deutschen Juden sollt nationaljüdisch empfinden! Wir müssen einen Trennungsstrich ziehen, so schmerzlich es auch sein mag. (Lebhafter Beifall.)
Rabbiner Dr. Lange-Essen wendet sich sehr scharf gegen den Zionismus. Zionisten und Centralvereinler seien unvereinbar. Wer das jüdischnationale Bekenntnis als Primat fordere, sei eine Gefahr. Uns deutschen Juden seien deutsche Kultur und deutsches Wesen eine innerste Angelegenheit. (Stürmischer Beifall.)
[…]
Nach einem Schlußwort der beiden Referenten wurde folgender Antrag mit überwältigender Mehrheit angenommen:
Die Generalversammlung des Centralvereins begrüßt die Schaffung jedweder Kongresse, auf denen die die deutschen Juden bewegenden Fragen von den gewählten Vertretern der deutschen Juden behandelt werden. Die Generalversammlung erwartet vom Vorstand, daß der erste Kongreß erst zu einer Zeit berufen wird, in der eine Abhaltung aus allgemeinen Erwägungen angebracht erscheint. Die näheren Bestimmungne bleiben dem Vorstande vorbehalten.
Über die beantragte Resolution Lewin wird zu Tagesordnung übergegangen. […]
Es folgten dann Referate über Organisation, Propaganda und Arbeit des Centralvereins. Die Debatte darüber war nur kurz.
Der Leitung des Centralvereins wurde aus der Mitte der Versammlung der Dank für ihre Arbeit ausgesprochen. In seinem Schlußwort sprach der Vorsitzende Geh. Rat Fuchs seine Genugtuung über den Verlauf der Versammlung aus. Der Centralverein bleibe eine Kampforganisation. Kampf und zielstreberische Bewegung seien die Hauptsache. Der Centralverein wird auch nach wie vor den Geist der Treue zum Judentum und zum Vaterlande pflegen. Der Erfolg in seiner Abwehrtätigkeit hänge zwar auch von Zufälligkeiten ab, trotz allem aber habe der Centralverein große Erfolge gehabt. (Stürmischer Beifall.)
Quelle:
Im deutschen Reich Nr. 6, Jg. 25 – Juni 1919
In: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/zoom/2355931
Bild:
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