Noch immer im Traumland des Waffenstillstandes
Die Rhön-Zeitung gibt in ihrem Artikel eine kleine Übersicht über die französischen Stimmen zu möglichen Abänderungen des Friedensvertrages. Fast alle Beteiligten scheinen noch immer im Traumland des Waffenstillstandes zu wandeln, denn abgesehen vom „Matin“ hat keine einzige Zeitung einen realistischen Blick auf die Verhältnisse und keine einzige Spekulation einer französischen Zeitung oder der Rhön-Zeitung wird tatsächlich zutreffen. Ein Erwachen aus dem Traumland wird ihnen bald blühen.
Volltext:
Entgegenkommen der Entente.
Überreichung der Antwort am Montag nachmittag.
Aus Versailles kommt die bestimmte Nachricht, daß die Antwort der Entente im Laufe des Montag nachmittag überreicht werden wird. Die Angaben über den Inhalt der Antwort kann man aus dem reaktionären Blatte „Echo de Paris“ herauslesen und zwar aus der Kritik, die Bertinar an dem Entgegenkommen des Viererrats übt. Das Blatt behauptet, daß das Kapitel über die Wiedergutmachungen wesentlich abgeschwächt sei. Die Wiedergutmachungskommission hätte in Zukunft weder die Summe noch die Zahlungsart festzusetzen. Die Deutschen seien auf diesem Gebiet zum Verhandeln zugelassen und sie hätten sogar das Recht, Vorschläge zu unterbreiten. In den nächsten sechs Monaten würde infolgedessen ein großer Kuhhandel entstehen. Was den Völkerbund anbetrifft, so hätte man vier Resolutionen vor sich, die von der zuständigen Kommission angenommen seien:
- In der nächsten Zukunft, würde Deutschland im Völkerbund aufgenommen;
- infolgedessen würden die wirtschaftlichen Beschränkungen, die der Vertrag enthalte entfallen:
- ohne abzuwarten, müssten die Sieger eine Herabsetzung ihrer Rüstungen vornehmen:
- in den vom Deutschen Reich abzutretenden Landesteilen übernehme der Völkerbund den Schutz von deutschen Minderheiten.
Das Blatt erklärt, Deutschland habe es unter diesen Umständen nicht mehr nötig, seine Unterschrift zu verweigern, denn erst in sechs Monaten könne der Friedensvertrag als abgeschlossen betrachtet werden.
Es ist sehr schwer festzustellen, ob diese Angaben den Tatsachen entsprechen. Wenn man das „Journal“ ließt, könnte man allerdings annehmen, daß die Angaben des „Echo de Paris“ in gewissem Sinne den Tatsachen entsprechen. Dieses Blatt sagt nämlich, die Zulassung Deutschland zum Völkerbund sei nur hinsichtlich de Datums nicht genehmigt, sein Eintritt aber als eine Möglichkeit der nächsten Zukunft mit allen sich daraus ergebenden Folgen anzusehen. Daraus dürfte man also annehmen, daß tatsächlich die uns vorzulegende Antwort am Montag in einigen Punkten neue Vorschläge unterbreiten wird, von denen allerdings jetzt noch nicht gesagt werden kann, ob sie so weitgehend sind, daß sie seitens der deutschen Delegation der Reichsregierung und der Nationalversammlung angenommen werden können. Jedenfalls schreien die Clemenceaublätter immer noch, das Prinzip sei nicht geändert worden und der „Matin“ erklärt sogar, es könne von weiteren Verhandlungen nicht die Rede sein, der Vertrag sei abzulehnen oder anzunehmen.
Quelle:
Rhön-Zeitung vom 16. Juni 1919, Nr. 137
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00172672/RhoenZ_1919-0501.tif