Parteitag der Verantwortung
Friedrich Stampfer, Chefredakteur des Vorwärts, schätzt die neue Verantwortung ein, die auf seine Parte zukommt. Beim ersten Parteitag der SPD in Regierungsverantwortung, müsse man darüber nachdenken, wie Entscheidungen, die man zu treffen habe und Kompromisse, die man zu schließen habe, am besten vermittelbar seien. Er betont, dass man die Regierung gar nicht wolle, sie aber als Pflicht ansehe. Einige Parallelen zu heutigen Ereignissen liessen sich finden...
Volltext:
Der sozialdemokratische Parteitag, der am Dienstag in Weimar beginnt, ist der erste, der nicht im Zeichen der Opposition steht. Noch der Würzburger hat mit Jubel die Kriegserklärung gegen den Reichskanzler Michaelis aufgenommen. Daß schon damals eine sozialdemokratische Kampfansage gegen einen Reichskanzler wie ein blitzschnelles Gift wirkte, war ein Zeichen für die wachsende Macht der Partei. Ein Jahr darauf finden wir sie selber in der Regierung.
Wir haben uns den Aufstieg zur Macht freilich anders vorgestellt, es war nie unser Ziel, Macht zu besitzen innerhalb einer Ohnmacht, wie unser geschlagenes Volk sie heute darstellt. Wir suchten unseren Weg nicht über Trümmer, das beweist am besten unsere Haltung während des Krieges, die darauf gerichtet war, den deutschen Volksbestand gegen fremde Eroberergewalt zu schützen. Als aber das Trümmerfeld – nicht durch unsere Schuld – geschaffen war, da stieß das Schicksal der Entwicklung uns darüber vorwärts. Die Sozialdemokratie mußte die Macht ergreifen, ob sie wollte oder nicht. Die letzten acht Monate sahen abwechselnd Zentrum, Demokraten, Unabhängige neben der Sozialdemokratie in der Regierung. Die Sozialdemokratie blieb ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht.
Darüber müssen wir uns klar sein: Wir sind Regierungspartei, nicht weil wir wollen, sondern weil wir müssen. Wir mögen dieses Los tausendmal verfluchen, es hilft uns nichts, wi sind an die Galeere der Macht geschmiedet, müssen bergeschwere Verantwortung tragen, und das glückliche Kinderland der Opposition liegt weit, weit hinter uns. Wir können es nicht so machen wie die Unabhängigen, die, nachdem sie einen Blick hinter die Kulissen getan, sich erschrocken ins Parkett zurückzogen, um dann seelenvergnügt auf dem altbewährten Hausschlüssel weiterzupfeifen. Wir können Personen aus der Regierung abberufen und andere an ihre Stelle setzen, wir können ganzen Regierungen das Leben unmöglich machen und sie stürzen, wir sind ja jetzt sehr mächtig. Nur die Macht haben wir nicht, im Reiche Verhältnisse zu schaffen, die uns von unserer Verantwortung entlasten und uns den Rückweg in hemmungslose Verantwortungslosigkeit gestatten.
Dies ist es, worüber sich der Parteitag von Weimar in erster Linie klar sein muß. Er kann Beschlüsse fassen, wie es ihm beliebt, aber er muß sich dabei immer fragen, was daraus folgt, nicht für die Beschließenden selbst und auch nicht einmal für die Partei, sondern für das ganze deutsche Volk. Sozialdemokratische Parteitagsbeschlüsse sind diesmal zum erstenmal ein unmittelbares Stück Volksgeschichte, sie können festigend wirken, aufbauend, aber auch explosiv zerstörend. Der Parteitag hat das Recht, zu zerstören, er hat aber dann auch die Pflicht, die entstandene Lücke sofort mit etwas Besserem auszufüllen, sonst würde er im Enderfolg die Partei und mit ihr das ganze Volk geschädigt haben.
Daraus ergibt sich, daß das Maß seiner Verantwortung dem Parteitag nicht gestattet, eine Politik der bloßen Stimmungen und taktischen Augenblickserwägungen zu treiben. Gewiß, es ist in den letzten Monaten manches schief gegangen, manches vielleicht auch schiefer, als es hätte gehen müssen, aber an der Summe des aufgestapelten Unmuts tragen nicht die Genossen in der Regierung, sondern die allgemeinen unglücklichen Verhältnisse schuld, die kein Mensch und auch kein sozialdemokratischer Parteitag in kurzer Zeit ändern kann. Wenn sich in dem geradezu unheimlich großen Zulauf, den die Partei in den ersten Wochen der Revolution erfahren hat, ein Stillstand, ja sogar ein gewisser Rückschlag geltend gemacht, wenn hochgestimmten Erwartungen grimmige Enttäuschungen gefolgt sind, so ist das ein natürlicher Prozeß, über den kein geschulter Parteigenosse den Kopf verlieren wird.
Kautsky hat in geradezu klassischer Weise die Entwicklung der Revolution geschildert, die Heerströme ungeschulter Massen in die politische Arena hineingestoßen hat. Diese Massen fluktuieren zwischen den einzelnen Parteilagern des Sozialismus, sie sind heute hier, morgen dort zu finden, aber diesem Chaos bleibt ein Kristallisationspunk neuer Ordnung erhalten, wenn der geschulte Stamm der Arbeiterklasse bleibt, wo er ist und in dieser schwersten Zeit, die die Partei erlebt hat, der alten Fahne die Treue wahrt.
Nur über einen gerechten Frieden, zu dessen Erringung uns vielleicht noch Hartes bevorsteht, nur über eine gerechte demokratische Staatsordnung, zu deren Verteidigung wir vielleicht noch nicht den letzten Kampf gekämpft haben, geht der Weg bergan zu einer von Grund aus neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Auf diesem Weg muß die Partei die Führung behalten, sie muß den Widerstand, der sich ihr von bürgerlicher Seite entgegenstellt, in zähem Kampf überwinden, muß sich aber auch behaupten gegen den unklaren Drang unbewusster Massen.
Wir brauchen dabei keinen Augenblick zu verkennen, daß in jenem Drang ein Element revolutionärer Erneuerung liegt, und daß jene Kommenden ebenso gut zu uns gehören, wie wir zu ihnen. Eine spätere, hoffentlich nicht zu späte Zeit wird alle Arbeitenden, Kopf- und Handarbeiter, in gemeinsamer Front gesammelt, die verschiedenen Strömungen des Sozialismus wieder geeinigt finden. Nur dürfen wir über solche vorausschauende Betrachtung unsere gegenwärtige Funktion nicht verkennen, die darin besteht, Trümmer zu beseitigen, Grundlagen zu schaffen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen für das, was nachher kommen soll. Daß diese Funktion von jedermann verstanden wird, dürfen wir nicht verlangen, daß wir Verwünschungen ernten für Dinge , an denen wir keine Schuld tragen, darf uns nicht irre machen, und wir müssen uns öfter des Wahlspruchs erinnern, zu dem sich Marx im Vorwort seines „Kapitals“ bekannte: „Segui il tou corso, e lascia dir le genti!“ Geh deinen Weg und lasse die Leute reden.
Sollen wir, werden wir deshalb die Fühlung mit den breiten Massen verlieren? Ich sage Nein! Geben wir den Massen nur das Gefühl, daß unser Vormarsch in klarer Ordnung nach sicheren Zielen erfolgt und kein ängstlich-nervöses Hin- und Hertappen ist! Politisieren wir sie, indem wir ihnen Gelegenheit geben, alle Probleme, mit denen wir uns herumschlagen müssen, mitzudenken. Zeigen wir ihnen die Schwierigkeiten, mit denen wir zu kämpfen haben und geben wir ruhig zu, daß wir keinerlei Unfehlbarkeit für uns beanspruchen. Unfehlbar in seinem eigenen Gefühl ist nur der Dozierende, der Handelnde ist immer fehlbar, und so zwingt uns das Schicksal, das uns zum Handeln zwingt, auch unsere Schwächen zu enthüllen, und, wo es not tut, begangene Fehler einzugestehen.
Wenn wir aber bei alledem fest bleiben in unserem Widerstand gegen einen naiven Utopismus, der aus einer Wüste im Handumdrehen einen Zaubergarten machen zu können wähnt, wenn wir dem arbeitenden Volk weiter helfen, sich selber gegen einen wirren Putschismus zu schützen, der den Sozialismus nicht organisieren, sondern ihn nur kompromittieren kann, so werden wir vor Volk und Geschichte ehrenvoll bestehen und auch als Partei später die Früchte unseres Verdienstes ernten. Aber das können wir nur, wenn wir uns dessen bewußt sind, daß die Partei in ihrer gegenwärtigen Form nicht das Höchste ist, sondern daß wir verpflichtet sind, auch sie selbst aus Spiel zu setzen, wo es gilt, das ganze Volk und die Sache des Sozialismus aus einem Taumel der Verwirrung und Verwüstung zu retten. Dafür trägt der Parteitag von Weimar die Verantwortung. Er ist nicht nur ein Stück Parteigeschichte, sondern auch in ungleich höherem Maße als irgend einer seiner Vorgänger ein Stück deutscher Volksgeschichte und ein Stück Geschichte des internationalen Sozialismus. Mögen seine Verhandlungen von dem ungeheuren Ernst dieser Tatsache erfüllt sein!
Quelle:
Der Vorwärts vom 8. Jun 1919, 36:288/290 (1919), S. 1 f.