So eine EU wär jetzt gut
Heute gilt der europäische Gedanke und die EU als dessen Ausformung den meisten als Garant für Frieden, Stabilität und Wohlstand. Schon der deutsche Verhandlungsführer in Versailles Graf Brockdorff-Rantzau setzte auf diese Karte. Als bloße Idee war Europa zwar populär, aber von einer politischen Umsetzung war noch nichts zu sehen. Erst 40 Jahre später werden ähnliche Gedanken für ein engeres Zusammenrücken - besonders auf wirtschaftlicher Ebene - auch tatsächlich umgesetzt.
Volltext:
Rantzaus Programm.
von Georg Bernhard.
Gestern morgen hat die „Vossische Zeitung“ die Unterredung veröffentlicht, die der Reichsminister Graf Brockdorff-Rantzau ihrem Sonderberichterstatter Dr. Alexander Redlich gewährte. Diese Ausführungen des Führers der deutschen Delegation in Versailles bilden eine hochbedeutsames, politisches Programm. Es enthält eine Fülle von Ideen, die besonders bemerkenswert erscheint angesichts der grundsätzlichen Ideenlosigkeit, deren sich das Reichskabinett bisher gegenüber den Problemen der Friedensverhandlungen befleißigt hat. Und es erfüllt uns mit ganz besonderer Freude, daß sich der verantwortliche Leiter der deutschen Außenpolitik damit auf den Boden der Grundanschauungen gestellt hat, die in der „Vossischen Zeitung“ seit langem vertreten sind. Bedauerlich ist es nur, daß diese klare Aussprache so wichtiger Gedankengänge von deutscher amtlicher Seite erst jetzt erfolgt. Was hätte an Versöhnungs- und Aufbauarbeit geleistet werden können, wenn von solchem gesamteuropäischen Geiste bereits die Waffenstillstandsverhandlungen und die monatelange Vorbereitungszeit zwischen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen erfüllt gewesen wäre.
Dieser gesamteuropäische Geist ist das Wesentliche an den Darlegungen des Grafen Rantzau. Die Erkenntnis, daß Europa an Entkräftung zugrunde gehen muss, wenn jede europäische Einzelwirtschaft auch sich selbst gestellt bleibt und der Kontinent damit atomisiert wird. Die daraus folgenden Erkenntnis, daß in einer großen gesamteuropäischen Wirtschaftsgenossenschaft die europäischen Einzelstaaten sich gegenseitig ergänzende Hilfe leisten müssen, wenn Gesundung und Wiederaufbau nach diesem furchtbaren Morden möglich sein soll. Das bedeutet die Wirtschaftsdemokratie der europäischen Völker. Bedeutet Verbrüderung der Gesamtheit in der Verteilung von Rohstoffen und Arbeitsmöglichkeiten, und bedeutet gleichzeitig die notwendige Sicherung wirklicher Demokratie innerhalb des Weltvölkerbundes, dessen rein formal demokratische Verfassung solche Sicherheit nicht gewähren kann. Erst durch solchen gesamteuropäischen Aufbau kann verhütet werden, daß der Kontinent sich in herrschende kapitalistische Rohstoffbesitzer-Staaten und in ausgebeutete Rohstoffproletarier-Staaten teilt.
Die staatliche Gliederung eines Kontinents, der für solche Wirtschaftszusammenfassungen reif ist, muss allerdings so gestaltet sein, daß der Wirtschaftsfriede, der durch die Genossenschaftsverfassung gewährleistet wird, nicht durch Reibungen politischer Art gestört werden kann. Graf Rantzau hat deshalb vollkommen recht, wenn er sich den Rahmen des zukünftigen europäischen Staatenlebens durch nationale Abgrenzungen ausgefüllt denkt. Auf Dauer kann nur der Staat bestand haben und nur der Staat gesunde internationale Beziehungen pflegen, der nationale Einheiten zusammenfasst. Die restlose Anerkennung des Nationalitätengrundsatzes für Europa ist deshalb die unbedingte Vorausetzung für den europäischen Frieden. Der Staat wird in Zukunft überhaupt nur noch Berechtigung haben als fest umrissene Kulturgemeinschaft einer Nation. Er muss der Ausdruck des nationalen Selbstbestimmungsrechtes sein. Und die Darlegungen, die Graf Rantzau über diesen Punkt macht, bilden nicht nur einen Entwurf für Europas zukünftigen staatlichen Aufbau, sondern sie zeigen der Entente zugleich, wie gefährlich die Missachtung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, die im Versailler Friedensentwurf zutage tritt, für den Frieden der Welt, für die Ruhe Europas und für das Geschick auch derjenigen europäischen Völker werden muss, die heute Kriegsbündnisgemeinschaften der Entente gehören.
Quelle:
Vossische Zeitung, Nr. 284 (06.06.1919 Morgenausgabe): Rantzaus Programm. (von Georg Bernhard)
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/index.php?id=dfg-viewer&set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fcontent.staatsbibliothek-berlin.de%2Fzefys%2FSNP27112366-19190606-0-0-0-0.xml