Alter oder neuer Föderalismus?
Manchmal sind die schwierigsten und entscheidendsten Fragen nicht die aufregendsten oder solche, deren Auswirkungen man unmittelbar wahrnimmt. So auch die Frage nach der Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund - Pardon: Reich - und den Ländern. Diese Entscheidung wird ein Kernbestandteil der neuen Verfassung und damit der neuen Demokratie sein, wenngleich die Bürgerinnen und Bürger wohl im Moment drängendere Fragen und Nöte zu haben scheinen.
Volltext:
Die Kompetenzen des Reiches.
Der Verfassungsausschuss der Nationalversammlung ist jetzt mit einer Frage beschäftigt, deren Formulierung den staatsrechtlichen Fachleuten großes Kopfzerbrechen macht. Man sucht nach einer unzweideutigen Festlegung der Kompetenzen des Reiches, die für alle denkbaren Fälle ausreichen. Das ist deshalb besonders wichtig, weil in Zukunft Verfassungsänderungen durch die Forderung der qualifizierten Mehrheit erschwert sind.
Der gestern eingebrachte Antrag Koch ist in einem Unterausschuss geprüft worden, der sich über neue, weniger bestimmte Formulierungen geeinigt hat. Danach soll in Zukunft unterschieden werden zwischen Gegenständen, die der Gesetzgebung des Reiches unterstehen, und solchen, bei denen das Reich nur die allgemeinen Grundsätze aufstellt. In der Debatte sprachen sich sämtliche Parteien mit Ausnahme der Sozialdemokratie für diesen Antrag Koch aus, dessen Annahme gesichert erscheint. Er hat folgenden Wortlaut:
„Statt des Art. 9 einsetzen: Art. 9 Das Reich hat die Gesetzgebung über: 1. die Staatsangehörigkeit, die Freizügigkeit, das Armenwesen, das Passwesen und die Fremdenpolizei, die Auslieferung sowie Ein- und Auswanderung; 2. das bürgerliche Recht, das Strafrecht und das gerichtliche Verfahren, sowie die Amtshilfe zwischen Behörden; 3. das Enteignungsrecht; 4. die Rechtsverhältnisse der Arbeiter und Angestellten, ihre Versicherung und ihren Schutz, sowie den Arbeitsnachweis; 5. den Handel, das Maß- und Gewichtswesen, das Münzwesen und die Ausgabe von Papiergeld, das Bankwesen, sowie das Börsenwesen; 6. das Gewerbewesen und den Bergbau; 7. das Versicherungswesen; 8. Seeschifffahrt und Seefischerei; 9. das Presse-, Vereins- und Versammlungswesen; 10. die Fürsorge für Kriegsteilnehmer und ihre Hinterbliebenen; 11. das Gesundheitswesen sowie die Bekämpfung von Tier- und Pflanzenkrankheiten; 12. den Verkehr mit Gegenständen des täglichen Bedarfs; 13. Mutterschaft, Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge; 14. die Regelung der Herstellung und Verteilung der Wirtschaftsgüter für die Gemeinwirtschaft.
Art. 9a. Das Reich kann allgemeine Grundsätze aufstellen über: 1. die Rechte und Pflichten der Religionsgemeinschaften; 2. das Schulwesen einschließlich der Hochschule; 3. das Beamtenrecht aller öffentlichen Körperschaften innerhalb des Reiches; 4. die Bodenverteilung, die Ansiedlung, das Heimstättenwesen, die Bindung des Grundbesitzes, das Wohnungswesen und die Bevölkerungsverteilung; 5. die Wandererfürsorge.
Die Ausführung der Reichsgesetze erfolgt durch die Landesbehörden, soweit nicht im Gesetz ein anderes bestimmt ist.“
Im Gegensatz zu diesem Antrag Koch steht ein sozialdemokratischer Antrag Quarck, der - neben anderen Formulierungen im einzelnen - Wert darauf legt, das ausschließliche Gesetzgebung des Reiches voranzustellen, und deshalb die in der ursprünglichen Form des Antrages enthaltene Dreiteilung wiederherstellen will.
Die nächste Sitzung der Kommission findet am kommende Montag, nachmittag 3 Uhr, staat. Der bisherige Verlauf der Beratungen lässt erwarten, daß es kaum gelingen wird, vor Ostern mehr als die erste Lesung dieser Kommission zu erledigen.
Quelle:
Vossische Zeitung vom 15. März 1919, Nr. 137 Abendausgabe
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/index.php?id=dfg-viewer&set%5Bimage%5D=3&set%5Bzoom%5D=default&set%5Bdebug%5D=0&set%5Bdouble%5D=0&set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fcontent.staatsbibliothek-berlin.de%2Fzefys%2FSNP27112366-19190315-1-0-0-0.xml
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Quarck#/media/File:WP_Quarck_Max.jpg