Arbeitsminister Wissell über den sittlichen Gehalt des Sozialismus
Vor der Nationalversammlung plädiert der Reichsarbeitsminister Rudolf Wissell für zwei Gesetze, die zur Reorganisation des Wirtschaftslebens beitragen sollen. Während eine umfassende Verstaatlichung von Betrieben nicht konsensfähig war sollen die Gesetze auf einem sanfteren Weg zur Durchsetzung der sozialistischen Idee im Wirtschaftsleben beitragen.
Volltext:
Meine Damen und Herren! Wilde Zuckungen überfliegen zurzeit unseren Volkskörper, Fieberschauer schütteln ihn überall. Unser Land ist krank. Es geht dem ganzen Volke so, wie es dem einzelnen nach zu großer Überanspannung der Kräfte geht: dann kommt die Zeit der Erschlaffung und der Abspannung. Dann ist der Körper besonders widerstandsfähig und einer Krankheit leicht zugänglich. Der Geist ist dann nicht so klar, daß er in früherer Schärfe Wirkung und Ursache immer klar auseinanderhält, und dann ist der Kranke ungeduldig, reizbar, zu steter Opposition bereit; er beharrt auf unbegründetem Widerspruch. Der Arzt wird dann Ruhe verordnen, Fernhalten alles Störenden, Pflege, gute Ernährung. Der gewissenhafte Arzt! Der Wunderdoktor wird Radikalkuren empfehlen, Mittel, die oft die Krankheit verschlimmern. […]
Der gewissenhafte Arzt wird auch hart sein müssen, wenn es gilt, des Kranken unberechtigten Wünschen entgegenzutreten. Hart nach Meinung des Kranken und vielleicht seiner Angehörigen. Doch er dient damit dem Kranken.
Auch eine Regierung wird hart sein müssen, wenn es gilt, unerfüllbaren Wünschen entgegenzutreten.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
[…]
Die beiden Gesetze [zur Sozialisierung und zur Regelung der Kohlenwirtschaft, Anm.], die Ihnen, meine Damen und Herren, vorliegen, bedeuten kein neues Programm. Die Reichsregierung läßt sich durch keine Umtriebe verantwortungsloser Elemente, durch keine äußeren Ereignisse irgendwelcher Art von dem Wege evolutionärer, das Vorhandene umbildender Neugestaltung des Wirtschaftslebens abbringen.
(Bravo! links.)
Die Gesetze wollen nichts anderes bedeuten und sind nichts anderes als ein bedeutsamer Schritt zur Verwirklichung des Sozialisierungsprogramms, zu dem wir uns wiederholt und nachdrücklich in der Regierung bekannt haben. Doch wollen wir dieses Programm, das bislang nur als ein Bekenntnis und ein Versprechen der Reichsregierung vorlag, durch einen Akt der Gesetzgebung verankern und sicherstellen, um für die Ausführung, die ungesäumt in Angriff genommen wird, ein sicheres Fundament zu schaffen.
Sicher werden sich wieder schrille Stimmen von jenen vernehmen lassen, denen dieses Fundament nicht genügt. Sie erkennen die Breite dieses Fundaments nicht, weil sie Blinde oder Phantasten sind, oder sie wollen sie nicht erkennen, weil sie nur danach trachten, einem schon zusammenbrechenden Weltensystem noch einige kümmerliche Tage hinzuzuzählen, mag auch das deutsche Volk unentrinnbar mit in den Strudel der Vernichtung hereingezogen werden und zugrunde gehen. Sie malen in allen Farben ein prächtiges Bild von herrlichen Zeiten, denen sie das Volk entgegenzuführen gedenken. Der deutsche Kapitalismus soll die Zeche bezahlen, derselbe Kapitalismus, von dem sie sehr wohl wissen, daß er aus dem verlorenen Kriege und seinen wirtschaftlichen und sozialen Folgen schachmatt und fast bankrott hervorgegangen ist. Wo soll denn bei der verzweifelten Lage unserer Gesamtwirtschaft die Rente herkommen, aus der und mit der jene Zeche bestritten werden könnte? Wir werden froh sein müssen, wenn wir unsere arbeitenden Hände beschäftigen können im eigenem Lande, in eigener Wirtschaft – die wir dem Abgrund zutreiben sehen. Einem bergabrollendem Wagen ist die deutsche Wirtschaft gleich, und die sozialistische Idee hat nunmehr die Steuerung dieses Wagens übernommen. Nur beharrliche Ruhe kann das Tempo des Abwärtsrollens mäßigen, das Volk ganz vor dem Zerschellen bewahren und es den erhofften Zielen zuführen. […]
Die sozialistische Idee hat auch die Pflichtgebundenheit zur Vorraussetzung. Die neue Zeit kann nicht nur Freiheit bringen, auch Pflichten.
(Sehr richtig!)
Und Freiheit nicht nur im Sinne der Zügellosigkeit, sondern im Sinne der Möglichkeit für jeden, der ernstlich das Beste des Ganzen zu fördern gewillt und befähigt ist, sich zu einem Wirkungskreise emporzuarbeiten, der diesem seinem Können und Wirken auch entspricht. Jede selbst übernommene oder von anderen anvertraute Aufgabe umschließt Verantwortlichkeit, und jede Verantwortlichkeit Pflichten. Von der Freiheit will jeder hören, nicht so sehr von den Pflichten. […] Aber wir wollen diesmal mit dem wirtschaftlichen Aufstieg, den wir zuversichtlich erhoffen, nicht einen sittlichen Abstieg Hand in Hand gehen lassen, der – das ist meine Überzeugung – die letzte Ursache unseres Zusammenbruchs ist. Daß jeder einzelne sich bei seinem Tun und Treiben der Pflichten bewußt ist, die er gegenüber dem Ganzen zu erfüllen hat, das ist die sittliche Grundlage des Sozialismus; und das kann in dieser allgemeinen Verwirrung der Begriffe nicht nachdrücklich genug betont werden.
Das Ihnen vorgelegte Sozialisierungsprogramm stellt deshalb diesen Grundsatz als eine sittliche Forderung an die Spitze aller seiner Ausführungen: das Bekenntnis zur Pflicht der Gesamtheit gegenüber.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Ausdrücklich möchte ich betonen, wir denken nicht daran, diesen Grundsatz der sittlichen Verpflichtung zur Arbeit zu einem rechtlichen Zwang zur Arbeit, etwa nach dem Vorbild des Hilfsdienstgesetzes, auszugestalten. Wir halten nichts von einem solchen Zwang, vertrauen aber um so fester darauf, daß unser Appell zu pflichterfüllender Arbeit dazu beitragen wird, die gesunden Triebe, die im deutschen Volke schlummern, wieder zu fruchtbringender Betätigung zu erwecken. […]
Was bedeutet das nun deutsche Gemeinwirtschaft? Sie bedeutet die organische Eingliederung der einzelnen wirtschaftlichen Unternehmungen in die Gesamtheit des Reichs, die Unterordnung der privatwirtschaftlichen Interessen unter die Interessen der Gesamtheit. Die Anwendung dieses allgemeinen Beitriebs auf den Einzelfall muß den individuellen Verhältnissen der verschiedenen Wirtschaftsgebiete sich anpassen. Nichts würde verkehrter sein als eine Schablonisierung der Wirtschaft. Jede Wirtschaftsgruppe ist ein Organismus eigener Art, der nach individuell angepassten Formen verlangte. Anknüpfung an historisch Gewordenes, an die äußere Methode der Vereinigung, wie sie die kapitalistische Wirtschaft in Kartellen und Syndikaten ausgebildet hat, erscheint uns geboten. Aber der Geist, der in solchen Organisationen herrscht, muß aus der Sphäre rein privatwirtschaftlicher Betrachtung zur Verantwortlichkeit gegenüber dem Volksganzen, zur gemeinwirtschaftlichen Idee emporgehoben werden. […]
Gemeinwirtschaft bedeutet nicht Staatswirtschaft, sondern Selbstverwaltung. Der Staat ist kein geeigneter Träger der Wirtschaft;
(hört! hört! Bei den Deutschen Demokraten)
er soll und kann die oberste Aufsicht führen, der oberste Sachwalter der Gesamtheit sein, Interessengegensätze mit Weisheit und Gerechtigkeit ausgleichen. Aber er soll mit seinen starren Formen, mit seinen ehrlichen, aber auch oft täppischen Manieren nicht in das feine System von Adern und Äderchen eingreifen, das dem Volkskörper die nahrungsgebenden Säfte zuführt. Das geschäftliche Handeln soll er im Rahmen der im Interesse des Volksganzen gebotenen Notwendigkeiten denen überlassen, die vermöge ihrer Zugehörigkeit zu dem betreffenden Wirtschaftszweige Verständnis für die Bedürfnisse derselben besitzen, und bei denen auch das Gefühl der Verantwortlichkeit für das Gedeihen dieses Wirtschaftslebens durch die Verbindung mit den eigenen Interessen geschärft ist.
(Sehr gut!)
An einer solchen Mitarbeit und Mitverantwortlichkeit sollen auch in Zukunft die deutschen Arbeiter teilnehmen.
[…]
Meine Damen und Herren! Eine Frage verlangt besondere Hervorhebung: die Arbeiterfrage. Ich schneide sie hier als Reichswirtschaftsminister nicht als rein sozialpolitische Frage, sondern in ihrem Zusammenhange mit den wirtschaftlichen Fragen an. Die Arbeiter sollen nicht nur die größtmögliche Förderung ihrer Berufsinteressen finden, sondern auch darüber hinaus Einfluß auf den Wirtschaftszweig ausüben, an dem sie mitarbeiten. Beide Forderungen sollen ihre Grenze nur noch an den Gesamtinteressen der deutsche Volkswirtschaft finden. Das Gesamtinteresse der deutschen Volkswirtschaft verlangt niedrige Preise der Erzeugnisse, Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkte, Leistung starker Abgaben an das Reich. Diese Bedingungen können bei dem in der übrigen Welt herrschenden System der Wirtschaft nur bei Berücksichtigung der Rentabilität der Wirtschaftsunternehmungen erfüllt werden.
(Sehr richtig!)
[…] Ich will aber betonen, daß mir am wichtigsten erscheint die Mitwirkung der Arbeitervertreter an den Zentralstellen der Selbstverwaltungskörper, weil diese die Träger der Wirtschaft sein werden. Hier werden mit dem nötigen Gesamtüberblick die großen wirtschaftlichen Fragen behandelt, hier ist die Einwirkung auf die Kohlenwirtschaft in allen ihren Zweigen gegeben, und hier wird auch über die Frage entscheiden, die das Wohl und Wehe der Arbeiterschaft ausschlaggebend und bis in jeden Betrieb hinabwirkend, beeinflusst. […]
Aber noch ein anderes erwarte ich von der Beteiligung der Arbeiter. Die Arbeiter haben, durch die Selbsterziehung in der Arbeiterbewegung zu wirtschaftlicher Einsicht herangereift, das Recht der Mitbestimmung und Mitverantwortung an den großen Geschehnissen des wirtschaftlichen Lebens. Ich, der ich selbst ein Sohn des arbeitenden Volkes bin, kann nicht eindringlich genug davor warnen, den sittlichen Charakter der deutschen Arbeiterschaft nach den Ausschreitungen einzelner zu beurteilen,
(sehr richtig! bei den Sozialdemokraten)
wie es von jener Seite (nach rechts) so häufig geschieht, nach den Ausschreitungen einzelner, die sich mit einer geradezu maßlosen Verhetzung die seelischen Erschütterungen, die dieser unselige Krieg verursachte, zu Nutzen machen. Nehmen Sie sich einmal die Mühe, und Sie werden bei Ihnen sehr viel mehr Verständnis nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf betriebstechnischem Gebiete finden, als man vielfach in anderen Kreisen zu finden vermag.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Und da es sich dabei um Wissen handelt, das aus eigener Kraft in den kurzen Mußestunden nach harter, häufig überlanger Arbeit erworben wurde, ist diesen Arbeitern ein Drang nach weiterem Wissen und damit auch eine Achtung eigen vor Dingen, die sie noch nicht näher kennen gelernt haben.
(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)
Diese eigene Schule, in welche alle Arbeiter gegangen sind, aus denen sich die Unterführer und die Führer der Arbeiterschaft rekrutieren, befähigt auch die Arbeiterschaft, an der Lösung der größten Fragen mitzuwirken, wenn man sie nur auch an der Verantwortlichkeit teilnehmen läßt.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
[…] Geben Sie der deutschen Arbeiterschaft durch Eingliederung in die wirtschaftliche Organisation die Möglichkeiten, die tüchtigsten ihrer Söhne bis in die oberste Führung hineinsteigen zu lassen, und Sie werden Wunder erleben, welche Energien Sie zum Wohl unserer wirtschaftlichen Zukunft freimachen!
(Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Quelle:
Protokolle über die Verhandlungen der Deutschen Nationalversammlung, 22. Sitzung, 7.3.1919.
In: https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_wv_bsb00000010_00548.html
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Wissell#/media/File:Bundesarchiv_Bild_102-09381,_Rudolf_Wissel.jpg