Der Rätegedanke und die Entstehung der Betriebsräte
In der Angst und der Ablehnung des Rätesystems sind sich - bis auf die USPD - fast alle Parteien in der Nationalversammlung einig. Nun schreibt ausgerechnet ein Sozialdemokrat in einer liberalen Zeitung, dass das Rätegedanke eigentlich gut, richtig und wichtig sei. Aus seinen Gedanken zu diesem System kann man heute noch unsere Betriebsräte als einzige Überreste der damaligen Arbeiterräte ableiten.
Volltext:
Die Verankerung des Rätesystems
Von Julius Kaliski
Die nachstehenden Ausführungen des in der letzten Zeit mehrfach besonders hervorgetretenen Mitglieds der Groß-Berliner Arbeiterräte entstammen einer größere Abhandlung in der letzten Nummer der „Sozialistischen Monatshefte“.
So wenig glücklich die Tätigkeit der Arbeiterräte in Deutschland gewesen ist, so bleibt die Tatsache doch bestehen, daß der Rätegedanke immer weitere Massen erfasst und aller Gegnerschaft der Regierung und auch der Gewerkschaften zum Trotz nach Verwirklichung verlangt.
Der russische Ursprung des Rätesystems ist unbestritten. Ganz unbegründet indessen ist die weitverbreitete Annahme, daß der Bolschewismus der Schöpfer des Arbeiterrätesystems sei. Das Gegenteil ist richtig. Bei dem Fehlen jeder legalen Arbeiterorganisation im zaristischen Russland entstanden in der Revolution von 1905 die Arbeiterräte aus den Arbeitern der einzelnen Fabriken. Bei dem Ausbruch der Revolution von 1917 lebten in Russland sofort wieder die Sowjets auf, gebildet aus den Arbeiterräten, die sich im Jahr 1905 als einzig mögliche Organisationsform der kämpfenden Arbeiterschaft bewährt hatten. Ihre Politik war von dem Verlangen bestimmt, der Herrschaft der von Kerenski geführten sozialistischen Demokratie eine erweiterte Basis zu schaffen. Sie bedeuteten die Stützen der Demokratie neben der Regierung, was von vornherein das Verlangen nach der alleinigen Macht in ihren Händen ausschloss.
Die Bolschewisten erhoben die Sowjets nominell zur Regierungsgewalt. In Wirklichkeit sabotierten sie sie, wie sie jede produktive Arbeit und Einrichtung der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre sabotierten. Mit der Wahlfreiheit der Sowjets war es vorbei. Ihre Mitglieder wurden vielmehr nur noch von der regierenden Gruppe ernannt. Damit wurden die Sowjets Instrumente der Diktatur, ganz ihrem früheren Charakter zuwider, den wieder herbeizuführen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre bemüht blieben. Wenn in den letzten Wochen von dem Eintritt menschewikischer und sozialrevolutionärer Vertreter in die Sowjets berichtet wurde, so kann das wohl als Zeichen für die Wiedererstarkung antibolschewistischer Kräfte, als ein Wiedererwachen des Sozialismus angesehen werden. Für die Umdeutung des durch die Sowjets repräsentierten Arbeiterratssystems zu einem Werk des Bolschewismus trifft die deutsche Politik in jeder Beziehung ein hohes Maß von Schuld, wie sie dem überhaupt für die Entstehung, Ausbreitung und Geltung des Bolschewismus verantwortlich gemacht werden muss. Und gerade auch die deutsche Sozialdemokratie hat ihren übervollen Anteil an dieser Irreführung und Anschauungsverwilderung.
Der Rätegedanke ist von Russland nach dem Westen hinübergesprungen. Er stieß bei uns auf die unbedingte Ablehnung seitens der Gewerkschaften, die in dem Hervortreten der Arbeiterräte die Ansage eines Konkurrenzkampfes gegen die gewerkschaftlichen Organisationen erblickten. Daß ein solcher Konkurrenzkampf für die Arbeiterbewegung als Ganzes sehr schädlich wäre, darüber darf in der Tat bei uns kein Zweifel bestehen. Bei einer richtigen Auffassung des Rätegedankens kann aber von einer solchen Konkurrenz gar keine Rede sein, vielmehr nur von der Übernahme verschiedener Funktionen. Die Gewerkschaften hätten den Aufgabenkreis der späteren Arbeiterräte vorwegnehmen können, wenn sie in ihrer Eigenschaft als Mitträger der Produktion, wie sie bereits im Tarifwesen in die Erscheinung trat, auch noch einen politischen Ausdruck gegeben hätten. Aber die Gewerkschaften haben das nicht getan. Sie haben sich überhaupt gerade während der Periode, als die revolutionäre Umwälzung sich vorbereitete und dann vollzog, in höchst bedauerlicher Weise selbst ausgeschaltet; sie haben das Werden des Produktionsgedankens in der Arbeiterklasse nur unvollkommen erfasst und waren mehr um die Erhaltung ihrer organisatorischen Errungenschaften besorgt als auf die Erweiterung ihres Aufgabenkreises bedacht. Dieser geistige Konservatismus bewirkte nun, daß das Feld, das sie brach liegen ließen, von spontan Neuem, eben den Arbeiterräten, besetzt wurde. Nachdem diese Neubildung einmal vollzogen ist, kann man sie nicht durch Kompetenzeinwände wegdekretieren.
Die Befürchtungen, die an die Einführung eines Rätesystems geknüpft werden, brauchen sich keineswegs zu erfüllen, wenn man sich zu einer planmäßigen Organisation der Arbeit entschließt. Die Gewerkschaften sind die Vertreter der Klassenbewegung der Arbeiter, diese Aufgabe muss und wird ihnen bleiben. An ihre Seite tritt nun die Organisation der Arbeiter als Vertretung der Produktion. In folgerichtiger Erkenntnis ihrer Aufgaben haben die Gewerkschaften das System der Arbeitsgemeinschaft mit dem Unternehmertum ausgebaut und im Oktober 1918 den Erfolg des Abschlusses des Arbeitergemeinschaftsvertrags in der Schwerindustrie erzielt. Was der Arbeiterklasse seit länger als drei Jahrzehnten als Ziel auf dem Gebiet der korporativen Regelung des Arbeiter- und Lohnvertrags vorschwebte, ist durch die Gewerkschaften erreicht. Aber unberührt blieb die Vertretung der Arbeiterschaft bisher in der Produktion. Für dieses große Gebiet der Betätigung der Arbeiter in ihrer Stellung als Produzenten haben sich, da die Gewerkschaften hierbei nicht selbst vorgingen, nun verschiedene Organe bereits herausgebildet durch die Errichtung der Arbeiterräte. Die Arbeiterräte stellen jetzt die Urzelle für den Aufbau der Produktion dar. Sie werden in Wahlen des einzelnen Betriebs gewählt, der wiederum die Urzelle der Produktion bildet.
In der Tagung des Arbeiter- und Soldatenrats von Groß-Berlin am 1. März 1919 hat die sozialdemokratische Fraktion sich geschlossen für den Rätegedanken auf dem Boden der Demokratie ausgesprochen und die Errichtung von Korporationen für alle Gewerbe verlangt, in denen die Arbeiterräte die Vertretung der Arbeiter für die Frage der Produktion bilden sollen. Ausdrücklich wurde die Verschiedenheit dieser neu zu bildenden Korporationen von den bisher errichteten Arbeitergemeinschaften, in denen die Arbeitgeberverbände mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten, betont. Diese sind Korporationen zur Regelung der Berufsfragen, das heißt der Fragen des Arbeits- und Vertragsverhältnisses. Jene sollen nun Vertretungen der Produktion werden, die von Unternehmern und Arbeitern gemeinsam getragen sind. Diese neue Arbeitsgemeinschaft bildet den Unterbau der Sozialisierung. In straff syndizierten Gewerben üben die Syndikate bereits seit langem die tatsächliche Leitung ihres besonderen Gewerbes aus. Bestimmend ist für ihre Führung aber lediglich das privatwirtschaftliche Interesse. Diese Syndikate erhalten durch den Eintritt der Arbeiterräte ihren gemeinwirtschaftlichen Charakter, die Arbeiter übernehmen die Eigenverantwortung für das Gewerbe und damit das Mitbestimmungsrecht über die Gestaltung der Produktion. Durch Verbindung der eben charakterisierten Korporationen zu Regelung der Produktion in den einzelnen Gewerben, über die Provinzen, die Länder und das Reich, entstehen die Zentralen für die Gewerbe. […]
Quelle:
Vossische Zeitung vom 27. März 1919, Nr. 159 Abendausgabe
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/index.php?id=dfg-viewer&set%5Bimage%5D=1&set%5Bzoom%5D=default&set%5Bdebug%5D=0&set%5Bdouble%5D=0&set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fcontent.staatsbibliothek-berlin.de%2Fzefys%2FSNP27112366-19190327-1-0-0-0.xml