Die Gesetzentwürfe über die Sozialisierung
Schon einige Tage zuvor hatte sich die Regierung mit einer Erklärung an das deutsche Volk gerichtet und die Dringlichkeit der Sozialisierung betont. Nun folgten Gesetzes-Entwürfe, die skizzierten, wie man diese erreichen wollte. Das Recht auf Arbeit bzw. der Wert der Arbeit steht dabei natürlich im Mittelpunkt.
Volltext:
„Das Gesetzbuch der wirtschaftlichen Demokratie.“
F.P. Die Reichsregierung hat unter dem Eindruck der Generalstreiksbewegung und der sonstigen Symptome wachsender Unruhe in Arbeiterkreisen sich bekanntlich entschlossen, in der Sozialisierungsfrage ein schnelleres Tempo einzuschlagen und endlich einmal konkrete Tatsachen zu schaffen. In einem Aufruf, der am Sonntag morgen veröffentlicht wurde, hat die Regierung erklärt, daß ihr gleichwichtig wie die politische auch die wirtschaftliche Demokratie sei. Sie sei dabei, das „Gesetzbuch der wirtschaftlichen Demokratie“ zu schaffen: Das einheitliche sozialistische Arbeiterrecht auf freiheitlicher Grundlage. Die Organe der wirtschaftlichen Demokratie, die aus freiesten Wahlen hervorgegangenen Vertreter aller Arbeiter (Betriebsräte) sollten die konstitutionelle Fabrik auf demokratischer Grundlage herstellen. In dem Aufruf wurde weiterhin auch die geplante Sozialisierung zunächst des Bergbaus (Kohle und Kali) sowie der Erzeugung von Energie durch Uebernahme dieser Gewerbe in öffentliche und gemischtwirtschaftliche Bewirtschaftung hingewiesen und auch erklärt, daß im neuen Deutschland Arbeit sozialistische Pflicht sein müsse. In einem anderen Flugblatt versicherte die Regierung unter Betonung derselben Gesichtspunkte, daß „die Sozialisierung marschiere“.
In den ersten Tagen der neuen Woche sind dann zwei kurzgefaßte Rahmenentwürfe veröffentlicht worden, die der Nationalversammlung zur schleunigen Beratung und Beschlußfassung unterbreitet werden. Der erste dieser Entwürfe führt den Titel
Entwurf eines Sozialisierungsgesetzes.
Die Hauptbestimmungen dieses Entwurfs lauteten folgendermaßen:
§ 1. Jeder Deutsche hat seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit von ihm fordert. Die Arbeitskraft als höchste wirtschaftliches Gut der Nation steht unter dem Schutze des Reiches. Das Reich gewährleistet jedem Deutschen die Möglichkeit, durch eine seinen Fähigkeiten entsprechende Arbeit sein Leben zu unterhalten. Soweit er Arbeitsgelegenheit nicht zu finden vermag, wird ihm nach Maßgabe eines besonderen Reichsgesetzes der notwendige Unterhalt aus öffentlichen Mitteln gewährt.
§ 2. Wirtschaftliche Unternehmungen und Werte, insbesondere Bodenschätze und Naturkräfte in die deutsche Gemeinwirtschaft zu überführen, sowie die Herstellung und Verteilung der wirtschaftlichen Güter für die deutsche Gemeinwirtschaft zugunsten des Reichs, der Gliedstaaten, Gemeinden oder Gemeindeverbände zu regeln, ist Sache des Reichs.
§ 3. Die deutsche Gemeinwirtschaft wird von wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörpern geleitet. Die Selbstverwaltungskörper werden vom Reich beaufsichtigt. Das Reich kann sich bei der Durchführung der Aufsicht der Behörden der Gliedstaaten bedienen.
Durch dieses Gesetz soll das Recht, aber auch die Pflicht zur Arbeit im Interesse der Gesamtheit stipuliert, und durch das soziale Arbeitsprinzip die bisherige persönliche Freiheit des Einzelnen (Individualprinzip) erhalten werden. Sofern die Gesamtheit dem Einzelnen keine Arbeitsmöglichkeit zu bieten vermag, hat sie ihm auf dem Wege der Arbeitslosenunterstützung, die ja bereits jetzt während der Demobilmachung – wenn auch in mangelhaft durchgebildeter Form – eingeführt wurde, den notwendigen Unterhalt zu gewähren. […]
Quelle:
Das Berliner Tageblatt vom 08. März 1919, 48:98 (1919), Morgenausgabe, S. 2.
Bild:
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