Große Wahl im kleinen Jena
Jeder der nur eine Stunde in der Kommunalpolitik zugebracht hat weiß: Hier werden Entscheidungen von Weltgeltung getroffen. Was sind schon die Wahlen zu Reichs- oder Landtag. In der Wahl zum neuen Gemeinderat werden die Weichen für die Zukunft Jenas gestellt. Diese zukunftsentscheidende Wahl wird natürlich auch von der örtlichen Presse umfassend gewürdigt und mit einer Wahlempfehlung abgerundet. Doch jenseits der Ironie birgt diese Wahl eine tatsächliche Brisanz. Die Entscheidungen der Nationalversammlung, die im wenige Kilometer entfernten Weimar getroffen werden, müssen schließlich von den Kommunen wie Jena und ihren Stadträten interpretiert und ausgeführt werden, um gesellschaftliche Geltung zu erlangen.
Volltext:
Vor der Entscheidung.
Wir stehen in Jena vor einer folgenschweren Entscheidung, wie sie wohl selten für die Städte vorhanden war. Nicht in geordneten, friedlichen Verhältnissen wie sonst, sondern in der Zeit eines furchtbaren Zusammenbruches sollen die Wähler über das Schicksal der Stadt entscheiden. Mit der Umwälzung der Staatsform kam eine weit gewaltigere zugleich, die soziale. Allenthalben spüren wir die furchtbaren Folgeerscheinungen dieser zweiten Revolution in der gewaltigen Gärung in den Geistern, vom leidenschaftlichen Kampf in Wort und Schrift bis zum offenen, blutheischenden Straßenkampf. Unter dem Zeichen der sozialen Revolution ziehen die neu zu wählenden Gemeindevertreter in ihr verantwortungsvolles Amt ein. Werden sie imstande sein, durch kluges Raten und Taten unsere Heimatstadt vor gewaltsamen Störungen zu bewahren? Werden sie imstande sein, neben Anerkennung politischer Gleichberechtigung aller, auch die scharfen sozialen Gegensätze auszugleichen? Werden sie imstande sein, gegenüber den allzu stürmisch drängenden Forderungen unentwegter Sozialisten den goldenen Mittelweg zu beschreiten, der jedem das Seine gibt?
Es ist die politische Sendung der Deutschen Demokratischen Partei, einen Ausgleich herzustellen zwischen den stürmischen Drängern von links und den gar zu zaghaften, oft für die Not der Zeit geradezu verständnislosen Männern von gestern. Je stärker die Deutsche Demokratische Partei in unser Stadtparlament einzieht, umso größer ist die Gewähr, daß es ihr bei ihrer zahlenmäßigen Stärke gelingen wird, diesen für unser Gemeinwesen so notwendigen Ausgleich sozialer Gegensätze zu erreichen und erbitterte Kämpfe in der Bürgerschaft zu vermeiden.
An die Möglichkeit solcher unheilvollen, die Bürgerschaft lähmenden Kämpfe scheint man auf der rechten Seite, den Parteien, die hinter dem Bürgerausschuss stehen, nicht zu denken; sonst hätten sie sich von dem Wahne einer sogen. „unpolitischen“ Liste befreien müssen. So friedlich-gemütlich wie einst wird es im kommenden Gemeinderat nie mehr zugehen. Es werden dort, in der ersten Pflanzschule politischen Lebens, im Prinzip die gleichen Kämpfe auszufechten sein, wie im Reichstage. Sie werden um so erbitterter sein, als alle Beschlüsse und Maßnahmen den einzelnen weit fühlbarer und rascher treffen, als die des Reichstages. Dort werden gewissermaßen die Grundlinien gezeichnet, hier wird das Bild ausgefüllt, mit Leben versehen, das auf den einzelnen Bürger, die einzelnen Stände sogleich wirksam wird.
Nur Männer und Frauen, die im politischen Leben stehen, werden diesen Aufgaben gewachsen sein. Nur solche Gruppen, die von einem gemeinsamen, zielstrebigen Geiste beseelt sind, werden in dem Drange der künftigen Aufgaben des Gemeinderats Herren der Lage sein. Gemeindevertreter, die eine unter sich abweichende, oder gar keine Grundanschauung haben, sind von vornherein zur Ohnmacht verurteilt: sie werden keine positive Arbeit leisten können, sondern in unfruchtbarer Kritik verharren müssen.
Darum, Männer und Frauen Jenas, überlegt in letzter Stunde den folgenschweren Schritt, den Ihr morgen zur Wahlurne tun werdet: die Verantwortung vor der Gesamtheit leite Euch! Wählt die demokratische Liste [Franz] „Gresitza“!
Quelle:
Jenaer Volksblatt vom 23. März 1919, Nr. 70 Morgenausgabe
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00258993/JVB_19190323_070_167758667_B1_001.tif