Harry Graf Kessler: Die Friedensbedingungen sind unannehmbar!
Kessler diskutiert seine Vorschläge zu einer Neustrukturierung des Staates mit dem Programmausschuss des Auswärtigen Amts. Zudem spricht er mit dem ehemaligen Reichskanzler Bernhard von Bülow über die Friedensfrage und sie sind sich einig, dass man die Bedingungen der Entente so nicht annehmen kann. Kessler glaubt jedoch nicht daran, dass eine Milderung erreicht werden kann.
Volltext:
14 März 1919. Freitag. Berlin.
Sitzung des Programmausschusses unseres Ausw. Amt November Clubs: anwesend Prittwitz, Bülow, Grunelius u. Bornstädt. Ich legte meinen Programmentwurf vor, den ich möglichst milde abgefasst habe. Er erregte aber schon Angst. Bornstädt, der den demokratischen Geldsack sieht, drängte zäh nach rechts. Bülow schlug Dreiteilung zwischen allgemeinen Prinzipien, Zielen und nächsten Massregeln vor, um so einen Spielraum für Opportunität zu gewinnen. Mir wird es zweifelhaft, ob ich überhaupt hier noch lange mitmache. Um Bülow wäre es mir leid. Gegensätze bei der Sozialisierung, die ich grundsätzlich auf allen grosskapitalistischen Gebieten durchführen will, weil erst dadurch die Grundlage für eine Demokratie bei uns entstehen kann, und beim städtischen Grundbesitz, dessen Enteignung u. Kommunalisierung ich verlange. Bornstädt meinte, damit würden wir Massen demokratischer Wähler nach rechts verlieren. Wenn sich nicht eine Partei der individuellen Freiheit auf sozialistischer Grundlage bilden lässt, dann wird die individuelle Freiheit aus unsrem Volke und wahrscheinlich in der ganzen Welt verschwinden. - Mit Bülow nachher über die Friedensfrage. Er hat Rantzau geraten, zunächst Vorlegung sämtlicher Friedensbedingungen zu fordern; dann sie für unannehmbar zu erklären. Und wenn die Entente sagt, sie seien unabänderlich, die Unterzeichnung des Friedens abzulehnen, aber gleichzeitig anzufragen, was die Bedingungen für Aufhebung der Blockade, Räumung der besetzten Gebiete und Rückgabe der Gefangenen, ohne Friedensschluss, seien? Wahrscheinlich werde die Entente antworten, dieselben Bedingungen wie für den Friedensschluss. Dann solle Rantzau unter Protest unterzeichnen; aber nur ein Abkommen über die genannten drei Gegenstände, keinen Frieden. Nach Bülows Ansicht würde dann die ganze Sache in kürzester Frist zusammenstürzen, da das Fehlen eines Friedens die Lage für die Entente bald unhaltbar machen würde. Bülow exemplifiziert an seinen eigenen Erfahrungen in Brest-Litowsk; die Taktik Trotzkis habe uns in die grösste Verlegenheit versetzt, weil wir viel mehr gefordert hatten, als wir wirklich erreichen wollten, und nun mit unserer Ungerechtigkeit dasassen.“ Die grosse Frage ist, ob die Entente die Blokade aufzuheben ohne Friedensschluss nicht ablehnt. Ich glaube, dass sie eine Hungersnot in Deutschland nicht riskieren kann oder wird. Sie wird vielleicht zunächst versuchen, uns zu bluffen u. die Blokade fortzusetzen; dann aber nachgeben müssen. - Im Abend Vorwärts offiziöser Artikel ,,Vor neuer Weltentscheidung“, der auf die Ablehnung des Entente Friedens, den Anschluss an Russland und die Aufnahme der Weltre volutions Propaganda durch Deutschland vorbereitet: „Leichtfertiger Weise wird Deutschland die Möglichkeit, mit der Entente zu einem erträglichen Frieden zu kommen, nicht zerstören. Aber wir müssen uns mit der Annahme vertraut machen, dass sie vielleicht schon zerstört ist durch wahnsinnige und verbrecherische Beschlüsse, die drüben gefasst worden sind; und dann wird uns garnichts übrig bleiben, als mit offenen Augen und in voller Kenntnis der Konsequenzen den anderen, den schweren Weg zu gehen. ... Wird .. der (bessere) Weg gewaltsam versperrt, dann wird die Katastrophe unvermeidlich nicht nur für Deutschland, sondern auch für die ganze übrige Welt ..." Gleichzeitig sind überall kleine Plakate in Gestalt eines Extrablattes an geschlagen, die das deutsche Volk auffordern, sich nicht durch seine Unterschrift zum Mitschuldigen an einem verbrecherischen Gewaltfrieden zu machen, der neue Kriege vorbereiten müsse. Der Kurs wird also scharf auf die Ablehnung eingestellt. Ob in der Hoffnung, die Bedingungen dadurch doch noch im letzten Augenblick zu mildern (Wilson ist gestern nach Europa zurückgekehrt) scheint mir zweifelhaft; zum mindesten ist diese Aussicht sehr gering. Unglaublich ist, dass man diesen Augenblick für standrechtliche Erschiessungen, planlose Morde und Reaktivierung des Greuel-Referats im Dienste der inneren Verhetzung wählt. Auch gehen Gerüchte über monarchische Gegenputsche, die geplant seien. Young glaubt sogar an ihre Richtigkeit. Die Erschiessung der 24 Matrosen in der Französischen Strasse, wo in dieser ganzen Zeit Nichts losgewesen ist, will mir nicht aus dem Kopf. Es ist eines der scheusslichsten Bürgerkriegs-Verbrechen unter den mir historisch bekannten. Ich versuchte Abends mir „Wie es Euch Gefällt“ bei Reinhardt anzusehen; kam aber nicht in die Stimmung. Diese Morde und Erschiessungen an der Tagesordnung in Berlin wollten mir nicht aus dem Sinn. - Von George Grosz heute einen Brief erhalten, in dem er mir schreibt: „Da ich mich augenblicklich in peinlicher Verlegenheit befinde, bitte ich Sie um gütige Mitteilung, ob ich wohl mit einem etwaigen Vorschuss auf das Ihnen reservierte Bild rechnen darf“. Datiert aus seinem Atelier. Er scheint also doch zurück zu sein. Ihm geschrieben, dass ich ihn Sonntag zwischen 12 u 1 besuchen u. die Sache in Ordnung bringen werde.
Quelle:
Reinthal, Angela (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Siebter Band 1919-1923, Stuttgart 2004, S. 185 - 187.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Graf_Kessler#/media/File:Kunsthalle_Weimar_4_2013_03.JPG