Kessler diskutiert mit Stresemann
Kessler diskutiert mit Bernhard, Hiller und Stresemann über eine engere Zusammenarbeit der rechtsstehenden Parteien. Außerdem berichtet er von den Ansichten Stresemanns zur wirtschaftlichen Zukunft und seinen Ansichten bezüglich einer möglichen Gegenrevolution, die er für wenig aussichtsreich hält.
Volltext:
26. März. 1919. Mittwoch Berlin.
Für heute war der Generalstreik angesagt. In Charlottenburg hatten die besseren Familien sich Kellerwohnungen eingerichtet und Hamsterlager angelegt. Der Tag ist vollkommen ruhig verlaufen. Nur Scheidemann u. Kardorff haben in gleich taktlosen Reden in Berlin und Weimar die Leidenschaften geschürt. – Abends assen Stresemann u. Georg Bernhard bei mir bei Hiller. Ich regte an, dass sich aus den rechtsstehenden Parteien (Demokraten bis Volkspartei oder selbst Deutschnationalen) einige Leute wöchentlich treffen sollten, die auf gleich humaner Basis wie wir bei Cassirer die aktuellen Fragen miteinander besprechen sollten, damit bei irgendeiner Gelegenheit, wie sie sich jetzt bei den Matrosenmorden ergeben hätte, ein Zusammenschluss zwischen meinen Leuten und jenen Rechtsleuten ergäbe. Auf dieser gemeinsamen Basis, die die Sozialisierung u. humanitäre Ideale anerkennte, liesse sich dann vielleicht eines Tages eine politische Partei des Geistes, der Arbeit und der anständigen Leute aufbauen. Ich schlug vor, dass Bernhard Paul Schwabach sondieren solle, ob er bereit sein würde, diesen mehr rechts stehenden Club in die Hand zu nehmen. Sowohl Bernhard wie Stresemann äusserten sich eindeutig gegen die Scheusslichkeiten der Soldatesca. Stresemann wiederholte, dass er „den Mut haben werde“, zur Sache in der NationalVersammlung das Wort zu ergreifen. Stresemann sieht übrigens nicht schwarz in unsere wirtschaftliche Zukunft, allerdings voraussetzend, dass wir Oberschlesien u. das Saargebiet behalten. Im Gegenteil; aus seinen Informationen als Aufsichtsrat vieler grossen Gesellschaften, (Sachsenwerk, Grammophon u.s.w.) meinte er, dass wir einer unerhörten Hochkonjunktur entgegengiengen. Die Fabriken könnten die bereits vorliegenden Bestellungen garnicht bewältigen. Frankreich sei in einer viel schlimmeren Lage, weil seine Fabriken zerstört seien, und das Geld, das wir als Entschädigung bezahlen könnten, diesen Übelstand zunächst nicht beheben könne. Ich besprach mit Stresemann noch die Frage der zwischenstaatlichen Wirtschaftsverbände (z. B. Saar-Briey-Longwy, Oberschlesien-Polen, Weichselschiffahrtsverband u.s.w.) und ihre politische Bedeutung; insbesondre auf den Völkerbund. Bei so eigenartigen Verhältnissen, wie sie geographisch, ethnographisch, wirtschaftlich zwischen Deutschland u Polen herrschten, müssten sie auch politisch an die erste Stelle rücken. Stresemann sagte zu, aus seinen wirtschaftlichen Kenntnissen zu diesem Punkte Material zu liefern. In dieser gährenden Welt sieht man immer wieder neue Formen u. Möglichkeiten sich wie in einem sturm gepeitschten Nebel bilden. Die Verpöbelung Ludendorffs durch Scheidemann heute in Weimar u. die Demonstrationen der Monarchisten vorigen Sonntag in Berlin wurden sehr ausführlich besprochen. Stresemann u. Bernhard läugnen jede Gefahr oder Möglichkeit einer Gegenrevolution. Stresemann, der die Demonstrationen gesehen hat, sagt, sie seien geradezu kümmerlich gewesen, Richthofen sei mit etwa 800 Mann, in die Wilhelmstrasse gezogen, eine andre Kolonne mit drei bis vier Tausend. Ludendorff sei nur zufällig zur gleichen Zeit durch die Wilhelmstrasse ins Adlon, wo er wohnt, gegangen. Die falsche Ausdeutung sei entstanden, weil ein gewisser Leutnant Molkenthin, der gleichzeitig mit dem Offiziersbund u. der National-Demokratischen Partei zusammenhänge, an den Demonstrationen teilgenommen u. die Anwesenden aufgefordert hätte, vor dem Bismarck Denkmal zu demonstrieren. Das habe aber Nichts mit dem Offiziersbund zu tun gehabt; und ausserdem seien nur wenige hundert Demonstranten zum Bismarck Denkmal gezogen. Stresemann meint, eine Gegenrevolution sei aussichtslos, weil sie sofort durch einen Generalstreik erledigt werden würde.
Quelle:
Reinthal, Angela (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Siebter Band 1919-1923, Stuttgart 2004, S. 207 f.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Stresemann#/media/File:Bundesarchiv_Bild_146-1989-040-27,_Gustav_Stresemann.jpg