Vossische Zeitung: Der polnische "Korridor"
Nach dem Großen Krieg gilt es Europa aus der Asche und der Verheerung zu heben. Doch wie sollen die Grenzen dieses neuen Europa aussehen. Darüber sind sich selbst die Alliierten uneins. Die Franzosen wollen eine größtmögliche Schwächung Deutschlands mit einem starken Polen im Osten. Auch die Amerikaner wollen ein starkes Polen, mit einem Meerzugang, während die Briten sich selbst in einer ausgleichenden Rolle sehen. Verständlicher wehrt man sich in Deutschland gegen Gebietsabtretungen und auch innerhalb der Entente gibt es Bedenken, ob man damit nicht die Saat für einen neuen Krieg legen würde.
Volltext:
Der „Temps“ schreibt: Die Beratungen der Regierungschefs scheinen sich gegenwärtig auf die polnische Grenze und das linke Rheinufer zu beziehen. In Bezug auf den ersten Punkt ist man sich noch nicht völlig einig über den Grundsatz der Angliederung von zwei bis drei Millionen Deutscher an Polen. Die Regierungschefs scheinen aber darin übereinzustimmen, daß, wenn eine solche Einverleibung die angebliche öffentliche Meinung beunruhigen kann, man die gleichen Befürchtungen hinsichtlich der Deutschland aufzuerlegenden Entschädigungen nicht zu hegen braucht. Die Entente wird sich daher wahrscheinlich eiliger mit der Frage der Wiedergutmachungen als mit der der polnischen Grenze beschäftigen. (Das heißt, daß die Bestimmungen der Grenze Polen einstweilen zurückgestellt werden mußten, weil Clemenceau in dieser Frage noch nicht nachgeben will.)
Die Pariser Ausgabe der „Daily Mail“ bestätigt in Ergänzung früherer Meldungen, daß gegen die Einverleibung von zwei Millionen Deutscher durch Bewilligung eines Zugangs zum Meere mit Danzig an Polen von gewisser Seite des Viererrates Einspruch erhoben wird. Eine weitere Vermischung der schon ohnehin sehr vermischten Bevölkerung Preußens scheine den Keim zu neuem Kriege zu enthalten. Die Bildung eines deutschen Irredentismus werde möglichst zu vermeiden gesucht. „Journal“ greift diese Auslegung der „Daily Mail“ scharf an.
Die amerikanischen Delegierten stimmten dem britischen Gesichtspunkt zu, daß der vorgeschlagene Korridor nach Danzig eine gefährliche Bedrohung für den zukünftigen Weltfrieden bilden könnte, falls er so groß gemacht werde, daß mehrere Millionen Deutsche darin eingeschlossen würden, welche später für ihren Anschluss an Deutschland stimmen könnten. Der Völkerbund ist daher vor eine außerordentlich schwierige Frage gestellt.
Quelle:
Vossische Zeitung vom 29. März 1919, Nr. 163 Abendausgabe
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/index.php?id=dfg-viewer&set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fcontent.staatsbibliothek-berlin.de%2Fzefys%2FSNP27112366-19190329-1-0-0-0.xml
Bild:
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