Zwischen Aufbau und Zusammenbruch
Nach den vielen nun zurückliegenden Problemen und Aufständen scheint nun eine trügerische Ruhe im Reich zu herrschen. Die Versorgungslage ist nach wie vor desolat und dies rasch zu ändern vermag wohl auch die neue Regierung nicht. In der Vossischen Zeitung wirft man der Nationalversammlung vor, sich nicht um die wichtigen und drängend Fragen zu kümmern. Unter alledem schwelt die Angst vor einem bevorstehenden Generalstreik und dessen Auswirkungen. Was wird nun also aus Deutschland? Kann man es wieder aufbauen oder steht es vor dem endgültigen Zusammenbruch?
Volltext:
Aufbau oder Zusammenbruch
Die innere Entwicklung in Deutschland treibt der Entscheidung entgegen. Sie treibt, denn es ist niemand da, der sie führt. In Weimar werden Reden gehalten. Während das Reich in Trümmern liegt, während die Bausteine, aus denen das neue Haus des deutschen Volkes gefügt werden sollte, willkürlich hier- und dorthin zerstreut werden, beraten Regierung und Nationalversammlung über die geschmackvolle Innenausstattung des Hauses, das nicht da ist. Vor den Toren der Stadt tobt der Streik, der Verkehr stockt: Nahrung, Wärme, Kraft und Licht können in den nächsten Tagen versiegen. Aber niemand rührt sich, höchstens der Reichswehrminister. Er schickt Truppen.
Unter solchen Umständen kann die Entscheidung, der wir entgegentaumeln, kaum mehr zweifelhaft sein. Sie heißt: Katastrophe - wenn nicht im letzten Augenblick die Augen sich öffnen, um zu sehen, die Muskeln sich straffen, um zu handeln. Nicht die Gewalt kann uns retten. Nicht der Generalstreik ist das Mittel, um die Katastrophe zu verhüten. Er würde vielmehr, selbst bei kurzer Dauer, die letzten Reste deutschen Wirtschaftslebens zerstören und den Zusammenbruch vervollständigen, den ja auch die Unabhängigen vermeiden wollen. Aber auch die Gewaltanwendung von Seiten der Regierung ist kein Heilmittel, wenn hinter ihr nicht der schöpferische Gedanke die aufbauende Tat steht, die allein einer Regierung das höchste Recht auf Autorität verleiht und auf die das deutsche Volk seit mehr als drei Monaten vergeblich wartet.
Es ist nicht wahr, daß man dem sinnlosen Ablauf der Ereignisse wie einer elementaren Gewalt ohne Hilfe und Rettung gegenüberstand. Es war nicht von vornherein und unweigerlich die Tendenz der deutschen Volkskräfte, zerstörend und selbstmörderisch zu wüten. Das ist auch heute nicht der Wille des deutschen Volkes. Es war und ist in seiner gewaltigen Mehrheit zum Schaffen bereit; aber nichts ist geschehen, um die schaffensfähigen Kräfte zusammenzufassen, zu leiten, zu organisieren. Nichts ist getan worden, um die Flut der Arbeitslosen, die sich in den Städten von Tag zu Tag staute, nach dem arbeiterhungrigen Land abzuleiten, und die Hunderttausende, die heute müßig gehen, in den Dienst der Volksernährung des kommenden Jahres zu stellen. Nichts ist geschehen, um die Förderung des wichtigsten Rohstoffes, den Deutschland besitzt, der Kohle, sicherzustellen. Man lässt die industrielle Produktion genau so hungern wie die landwirtschaftliche. Millionen Hände frieren, ohne es zu wollen. Hunger, Unzufriedenheit und Müßiggang werden zu einzig wirksamen Autorität, und das winzige Häuflein der Verneiner und Zerstörer erhält plötzlich Gewicht und Stimme.
Die Zusammenfassung der schaffenden Kräfte war möglich und ist es noch. Sie allein ist das wirksame Mittel gegen alle untauglichen Versuche eines Teils der Arbeiterschaft zur Selbsthilfe. Durch Nichtstun hat man die Bewegung der Arbeiterräte großgezogen und sie in einer Richtung bestärkt, die von der Demokratie weg und zur Willkürherrschaft hinführt. Heute ist keine Regierung mehr in der Lage, diese Bewegung mit einem schroffen Nein und einer hoheitsvollen Geste zu beseitigen. Auch die Gewalt der Waffen kann auf die Dauer nicht kommen, wenn sie als einziges Beruhigungsmittel angewendet wird. Heute gilt es, den Gedanken der Arbeiterräte im demokratischen Sinne umzugestalten und im Sinne einer allgemeinen freudigen Mitarbeit an dem Aufbau und der höchsten Steigerung der Gütererzeugung nutzbar zu machen.
Ein praktischer Vorschlag nach dieser Richtung ist gestern in der Sitzung der Berliner Arbeiterräte gemacht und mit erfreulichem Verständnis aufgenommen worden. Noch ist es Zeit, daß die Regierung nun auch ihrerseits das Problem erkennt, um dessen Lösung es sich handelt, und daß sie den Mut und die Entschlusskraft findet, ihm gerecht zu werden. A.R.
Quelle:
Vossische Zeitung vom 01. März 1919, Nr. 110 Morgenausgabe
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/index.php?id=dfg-viewer&set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fcontent.staatsbibliothek-berlin.de%2Fzefys%2FSNP27112366-19190301-0-0-0-0.xml
Bild:
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