Clemenceau an Deutschland: "Die Stunde der Abrechnung ist da."
In Versailles tagte die Friedenskonferenz der Entente, wo am 7. Mai der deutschen Delegation die Friedensbedingungen überreicht wurden. Der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau stellte in seiner Eröffnungsrede klar, dass das Deutsche Reich für den entstandenen Kriegsschäden zu zahlen habe. In seiner Antwortrede versuchte der deutschen Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau an Boden zu gewinnen, indem er die These von der Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des Krieges trotzig zurückwies.
Problematisch war an dieser Strategie, dass der Kriegsschuld-Artikel des späteren Versailler Friedensvertrages (Art. 231) erst hierdurch zum zentralen Thema der Verhandlungen wurde. Eigentlich war der Artikel nur als rechtliche Grundlage für wirtschaftliche Reperationsforderungen gedacht gewesen, doch nun entzündete sich eine moralisierende Debatte über die "Kriegsschuld" und den vermeintlich militaristischen Nationalcharakter der Deutschen hieran. Diese Debatte konnte die deutsche Seite angesichts der eskalierenden Außenpolitik des Kaiserreiches vor dem Ersten Weltkrieg und der deutschen Kriegsverbrechen während des Weltkrieges nicht für sich entscheiden.
Volltext:
Meine Herren Delegierten des Deutschen Reichs!
Es ist hier weder der Ort noch die Stunde für überflüssige Worte. Sie haben vor sich die Versammlung der Bevollmächtigten der kleinen und großen Mächte, die sich vereinigt haben, um den fürchterlichsten Krieg auszufechten, der ihnen aufgezwungen worden ist. Die Stunde der Abrechnung ist da. Sie haben uns um Frieden gebeten. Wir sind geneigt, ihn Ihnen zu gewähren.
Wir übergeben Ihnen das Buch des Friedens. Jede Muße zu seiner Prüfung wird Ihnen gegeben werden. Ich rechne darauf, daß Sie diese Prüfung in dem Geiste der Höflichkeit vornehmen werden, welche zwischen Kulturnationen vorherrschen muß; der zweite Versailler Friede ist zu teuer von uns erkauft worden, als daß wir es auf uns nehmen könnten, die Folgen dieses Krieges allein zu tragen.
Um auch die andere Seite meines Gedankens zu Ihrer Kenntnis zu bringen, muß ich notwendigerweise hinzufügen, daß dieser zweite Versailler Friede, der den Gegenstand unserer Verhandlungen bilden wird, von den hier vertretenen Völkern zu teuer erkauft worden ist, als daß wir nicht einmütig entschlossen sein sollten, sämtliche uns zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden, um jede uns geschuldete berechtigte Genugtuung zu erlangen. […]
[Es folgt die Überreichung des Textes der Friedensbedingungen und danach die Antwortrede Graf Brockdorff-Rantzaus, Anm.]
Meine Herren! Wir sind tief durchdrungen von der erhabenen Aufgabe, die uns mit Ihnen zusammengeführt hat: der Welt rasch einen dauernden Frieden zu geben. Wir täuschen uns nicht über den Umfang unserer Niederlage, den Grad unserer Ohnmacht. Wir wissen, daß die Gewalt der deutschen Waffen gebrochen ist; wir kennen die Wucht des Hasses, die uns hier entgegentritt, und wir haben die leidenschaftlichen Forderungen gehört, daß die Sieger uns zugleich als Überwundene zahlen lassen und als Schuldige bestrafen sollen.
Es wird von uns verlangt, daß wir uns als die allein Schuldigen am Kriege bekennen; ein solches Bekenntnis wäre in meinem Munde eine Lüge. Wir sind fern davon, jede Verantwortung dafür, daß es zu diesem Weltkriege kam, und daß er so geführt wurde, von Deutschland abzuwälzen. Die Haltung der früheren Deutschen Regierung auf den Haager Friedenskonferenzen [von 1899 und 1907, Anm.], Handlungen und Unterlassungen in den tragischen zwölf Junitagen [vom 20. bis 31. Juli 1914, Anm.] mögen zu dem Unheil beigetragen haben, aber wir bestreiten nachdrücklich, daß Deutschland, dessen Volk überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu führen, allein mit der Schuld belastet ist.
[…]
Der erhabene Gedanke, aus dem furchtbarsten Unheil der Weltgeschichte durch den Völkerbund den größten Fortschritt der Menschheitsentwicklung herzuleiten, ist ausgesprochen und wird sich durchsetzen; nur wenn sich die Tore zum Völkerbund allen Nationen öffnen, die guten Willens sind, wird das Ziel erreicht werden, nur dann sind die Toten des Krieges nicht umsonst gestorben.
Das deutsche Volk ist innerlich bereit, sich mit seinem schweren Los abzufinden, wenn an den vereinbarten Grundlagen des Friedens nicht gerüttelt wird. Ein Frieden, der nicht im Namen des Rechts vor der Welt verteidigt werden kann, würde immer neue Widerstände gegen sich aufrufen. Niemand wäre in der Lage, ihn mit gutem Gewissen zu unterzeichnen, denn er wäre unerfüllbar. Niemand könnte für seine Ausführung die Gewähr, die in der Unterschrift liegen soll, übernehmen.
Wir werden das uns übergebene Dokument mit gutem Willen und in der Hoffnung prüfen, daß das Endergebnis unserer Zusammenkunft von uns allen gezeichnet werden kann.
Quelle:
Ursachen und Folgen, Bd. 3, S. 346-350.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Georges_Clemenceau#/media/File:ClemenceauLloydGeorgeYOrlando_(cropped).jpg