Die Weimarer Republik – Deutschlands erste Demokratie

DE | EN

Das Schicksal Danzigs

Der Leitartikler des Berliner Tageblatts - Erich Dombrowski - setzt sich ausführlich mit den Folgen des Friedensvertrages für die Stadt Danzig und das deutsch-polnische Verhältnis auseinander. Die Abtrennung der rein deutschen Stadt und dessen faktische Annexion durch Polen werde die zukünftigen Beziehungen auf schwerste belasten. Tatsächlich wird rund 20 Jahre später der Zweite Weltkrieg durch den deutschen Überfall auf die Danziger Bucht beginnen.

Volltext:

Unter den territorialen Bedingungen des Friedensvertrages hat die willkürliche Loslösung der Stadt Danzig und ihrer näheren Umgebung vom Deutschen Reiche am meisten überrascht. Dieses Territorium soll, um den Schein zu wahren, da es sich schließlich um eine rein deutsche Stadt handelt, nicht unmittelbar Polen zugesprochen, sondern als „Freie Stadt“ erklärt werden, die unter die Garantie des Völkerbundes gestellt wird. Im Einvernehmen mit einem Oberkommissar des Völkerbundes soll eine Verfassung ausgearbeitet werden. Dieser Oberkommissar kann, da nichts Näheres darüber im Friedensvertrag gesagt wird, auch ein Pole sein, wenn die alliierten Mächte es so bestimmen. Die Verfassung soll nicht aus einem frei gewählten Parlament hervorgehen, sondern „von ordnungsgemäß ernannten Vertretern der Freien Stadt“ aufgestellt werden. In einem besonderen Abkommen, dessen Bestimmungen von den alliierten und assoziierten Hauptmächten festgesetzt werden, soll Danzig sodann in ein ganz bestimmtes wirtschaftliches und politisches Abhängigkeitsverhältnis zu Polen gebracht werden. Die Stadt wird dementsprechend in das polnische Zollgebiet aufgenommen. Den Polen steht die freie Benutzung und der Dienst der Wasserstraßen, der Docks, der Binnenhäfen und Kais ohne jede Einschränkung zu. Ferner unterliegen der polnischen Kontrolle und Verwaltung die Weichsel sowie das gesamte Eisenbahnnetz und die Post-, Telegraph- und Telephonverbindungen. Jeglicher Besitz des Deutschen Reiches im Gebiete des künftigen Freistaates wird den alliierten Mächten übertragen und kann von ihnen, je nachdem sie es für recht und billig halten, an die Freie Stadt oder den polnischen Stadt weiter zediert werden. Die Deutschen, die das Optionsrecht ausüben, müssen innerhalb eines Jahres ihren Wohnsitz nach Deutschland verlegen. Von den Bürgern polnischer Nationalität ist bezeichnenderweise dabei mit keinem Wort die Rede. Die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten Danzigs und der Schutz der Danziger Bürger im Auslande wird der polnischen Regierung übertragen. So weit die Artikel 100 bis 108 des Friedensinstrumentes.

Dem Namen nach wird Danzig, diese vieltürmige Renaissancestadt mit ihren trauten Gassen und würdigen Patrizierhäusern, diese traditionsreiche Stätte deutscher Kultur, also eine Freie Stadt, in Wirklichkeit wird es, völlig von Deutschland abgetrennt und von polnischem Land umschlossen, ein polnisches Territorium. Wojciech Korfanty, der aus seinem Herzen nie eine Mördergrube machte, sagte mir einmal, als er noch deutscher Reichstagsabgeordneter war, daß Polen Danzig gar nicht beanspruche. Er sei aber fest davon überzeugt, daß es, von lauter polnischen Gebieten umgeben, längstens in zehn Jahren selbst die Aufnahme in den polnischen Staatsverband nachsuchen werde. Darauf ist der Friedensvertrag, soweit er Danzig betrifft, unverkennbar eingestellt. Eine Parallele aus dem Raub des Saarreviers. Ein Annexionswechsel auf längere Sicht.

[…]

Wir haben schon gesagt, daß die im Friedensvertrage vorgesehene polnische Annexion des größten Teils von Westpreußen, ohne daß eine Volksabstimmung entschieden hätte, ganz und gar nicht mit den vierzehn Punkten Wilsons in Einklang zu bringen ist. Noch weniger die Loslösung Danzigs vom Deutschen Reiche zugunsten Polens. Niemand will den Polen den Zugang zum freien Meere verwehren. Aber das ist auch möglich, ohne daß ungefähr eine Million deutscher Westpreußen vergewaltigt wird. Den Polen kann der freie Schiffs- und Handelsverkehr auf der Weichsel, ein Freihafen in Danzig und eine Eisenbahnlinie für den Personen- und Warentransport nach der See gewährleitet werden. Die Polen und die Deutschen werden hinfort wirtschaftlich und kulturell aufeinander angewiesen sein, aber der polnische Imperialismus, der augenblicklich von einer Ländergier ohnegleichen besessen ist, scheint uns nicht gerade die Vorbedingungen für ein verträgliches gemeinsames Arbeiten zu schaffen. Im Gegenteil, wird der Friedensvertrag so verwirklicht, wie ihn die allpolnischen Nationalisten bei der willfährigen Entente durchgesetzt haben, so wird hier ein permanenter Kriegszustand geschaffen, und die polnische Frage wird dann für einen unabsehbaren Zeitraum die europäische Politik nicht zur Ruhe kommen lassen.

Freie Stadt Danzig

Quelle:

Berliner Tageblatt vom 24. Mai 1919

In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/kalender/auswahl/date/1919-05-24/27646518/

 

Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Stadt_Danzig#/media/File:Location_Free_City_of_Danzig_1923-DE.png

Glossar anzeigen
Ein Projekt des Weimarer Republik e.V. mit freundlicher Unterstützung

Glossar

Abkürzungs- und Siglenverzeichnis der verwendeten Literatur:

ADGBAllgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
AEGAllgemeine Elektricitäts-Gesellschaft
AfA-BundGeneral Free Federation of Employees
AVUSAutomobil-Verkehrs- und Übungsstraße
BMWBayrische Motorenwerke
BRTBruttoregistertonne
BVPBayerische Volkspartei
CenterZentrumspartei
DAPDeutsche Arbeiterpartei
DDPDeutsche Demokratische Partei
DNTDeutsches Nationaltheater
DNVPDeutsch-Nationale Volkspartei
DVPDeutsche Volkspartei
KominternCommunist International
KPDKommunistische Partei Deutschlands
KVPKonservative Volkspartei
MSPDMehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands
NSNationalsozialismus
NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei; Nazipartei
NVNationalversammlung
O.C.Organization Consul
OHLOberste Heeresleitung
RMReichsmark
SASturmabteilung; Brownshirts
SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands
SSSchutzstaffel
StGBPenal Code
UfAUniversum Film Aktiengesellschaft
USPDUnabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
VKPDVereinigte Kommunistische Partei Deutschlands
ZentrumDeutsche Zentrumspartei
[AB]August Baudert: Sachsen-Weimars Ende. Historische Tatsachen aus sturmbewegter Zeit, Weimar 1923.
[AS]Axel Schildt: Die Republik von Weimar. Deutschland zwischen Kaiserreich und „Drittem Reich“ (1918-1933), hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 2009.
[BauerBauer, Kurt, Nationalsozialismus. Ursprünge, Anfänge, Aufstieg und Fall, u.a. Wien 2008.
[BihlBihl, Wolfdieter, Der Erste Weltkrieg 1914 - 1918. Chronik - Daten - Fakten, Wien 2010.
[BüttnerBüttner, Ursula, Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933, Stuttgart 2008.
[DNV]Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, hrsg. v. Ed.[uard] Heilfron, Bd. 1 bis 6, Berlin [1919].
[Ebert/Wienecke-JanzEbert, Johannes/Wienecke-Janz, Detlef, Die Chronik. Geschichte des 20. Jahrhunderts bis heute, Gütersloh/München 2006.
[EK]Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik, 3. überarb. u. erw. Aufl., München 1993.
[EtzoldEtzold, Hans-Rüdiger, Der Käfer II. Die Käfer-Entwicklung von 1934 bis 1982 vom Urmodell zum Weltmeister, Stuttgart 1989.
[GG]Gitta Günther: Weimar-Chronik. Stadtgeschichte in Daten. Dritte Folge: März 1850 bis April 1945 (Weimarer Schriften, Heft 33), Weimar 1987.
[GrüttnerGrüttner, Michael, Das Dritte Reich 1933-1945 (= Bd. 19, Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte), Stuttgart 2014.
[HildebrandHildebrand, Klaus, Das Dritte Reich, 7. Aufl., München 2010.
[Kessler Tgbb]Harry Graf Kessler. Tagebücher 1918-1937, hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt a. M und Leipzig 1996.
[KittelKittel, Erich, Novembersturz 1918. Bemerkungen zu einer vergleichenden Revolutionsgeschichte der deutschen Länder, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 104 (1968), S. 42-108.
[KolbKolb, Eberhard, Die Weimarer Republik, 7. durchges. und erw. Aufl., München 2010.
[NiedhartNiedhart, Gottfried, Die Außenpolitik der Weimarer Republik, 2. aktualisierte Aufl., München 2010.
[O/S]Manfred Overesch/ Friedrich Wilhelm Saal: Die Weimarer Republik. Eine Tageschronik der Politik, Wirtschaft, Kultur, Düsseldorf 1992.
[Overesch/SaalOveresch, Manfred/Saal, Friedrich Wilhelm, Die Weimarer Republik, Eine Tageschronik der Politik, Wissenschaft Kultur, Augsburg 1992.
[PeukertPeukert, Detlef, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987.
[PK]Paul Kaiser: Die Nationalversammlung 1919 und die Stadt Weimar (Weimarer Schriften, Heft 16), Weimar 1969.
[PM]Paul Messner: Das Deutsche Nationaltheater Weimar. Ein Abriß seiner Geschichte. Von den Anfängen bis Februar 1945 (Weimarer Schriften, Heft 17), Weimar 1985.
[ThHB]Thüringen-Handbuch. Territorium, Verfassung, Parlament, Regierung und Verwaltung in Thüringen 1920 bis 1995, hrsg. von Bernhard Post und Volker Wahl, Redaktion Dieter Marek (Veröffentlichungen aus Thüringischen Staatsarchiven, Bd. 1), Weimar 1999.
[TofahrnTofahrn, Klaus W., Chronologie des Dritten Reiches. Ereignisse, Personen, Begriffe, Darmstadt 2003.
[UB]Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933. Leistungen und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008.
[VU]Volker Ullrich: Die Revolution von 1918/19, München 2009.
[WinklerWinkler, Heinrich-August, Weimar 1918-1933. Die Geschichte der Ersten deutschen Demokratie, München 1993.
[WirschingWirsching, Andreas, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, 2. erw. Aufl., München 2010.

(zusammengestellt von Dr. Jens Riederer und Christine Rost, bearbeitet von Stephan Zänker)