Die Weimarer Republik – Deutschlands erste Demokratie

DE | EN

Das „Todesurteil“

Das Berliner Tageblatt bespricht den als „Deutschlandfeind“ bekannten Journalisten Dr. E. J. Dillon. Dieser sieht den Friedensvertrag nur als Prophezeiung für neue Kriege und Konflikte, die von Deutschland ausgehen werden. Bei der erstbesten Gelegenheit werde Deutschland versuchen, sich der Verpflichtungen des Vertrags zu entziehen. Dementsprechend befürwortet Dillon die Aufrechterhaltung des militärischen Drucks gegen das Reich. Das Tageblatt ist ob solcher Stimmen pessimistisch, dass Deutschland diesem "Todesurteil" entkommen werde.

Volltext:

Das „Todesurteil“

(Telegramm unseres Korrespondenten.)

Haag, 15. Mai

            Dr. Dillon, dessen Deutschfeindlichkeit bekannt ist, äußert folgende charakteristische Auffassung über den Friedensvertrag: „Er ist nicht auf der Basis der vierzehn Punkte verfaßt, wie ursprünglich beabsichtigt, noch nach dem alten Schema des Mächtegleichgewichts. Er ist ein Kompromiß, das [sic!] viele Nachteile beider Prinzipien in sich vereinigt und im übrigen keinen ihrer Vorteile enthält. Künftige Kriege verhindert er keineswegs, wird aber vielleicht ihre Zahl vermehren. Frankreich ist wirklich zufrieden. Frankreich dauernd gegen Deutschland zu sichern, schien manchen eine unmögliche Aufgabe, es sei denn, daß man die volle Macht des Siegers gegenüber dem Besiegten ausspielte. Man fürchtete, daß Wilson mit seinem strengen Gerechtigkeitssinn und seiner Begeisterung für einen kommenden Völkerfrieden dies verhindern würde. Alle diese Befürchtungen sind am 7. Mai fortgeblasen worden, und über Frankreich liegt Sonnenschein. Die Frage blieb, ob das über die Deutschen gefällte Urteil auf die Dauer sich durchführen lasse. Der Geheime Rat der Vier hat die Frage mit Ja beantwortet. Vom teutonischen Standpunkt aus ist daher der Friedensvertrag mit Recht als Todesurteil zu betrachten, das nicht nur das Kaiserreich trifft, auch Deutschlands wirtschaftliche Anstrengungen werden in bestimmten Grenzen eingeschränkt bleiben. Seine Bevölkerung wird indirekt von der Ausdehnung über bestimmte Grenzen hinaus zurückgehalten werden. Anstatt Waren zu exportieren, wird es menschliche Wesen exportieren müssen, deren Intelligenz und Tüchtigkeit von den Rivalen ihrer eigenen Rasse benutzt werden wird. Die, die in der Heimat bleiben, werden nicht Herren des eigenen Hauses sein, und seine Türen werden immer Kommissionen offenstehen. Wenn Deutschland in den Völkerbund eintritt, wird es nur ein fünftes Rad am Wagen sein. Dagegen wird der militärische Dreibund von kleineren Staaten, die bereit sind, als Schildwachen zu dienen, umworben werden. Man wird auch in Zukunft von der Voraussetzung ausgehen, daß die Welt geteilt bleibt zwischen den Freunden und den Feinden der Freiheit und der Gerechtigkeit.“ (!)

            In einem weiteren weiteren Abschnitt spricht Dillon über den „Papierfetzen“. „Mehr und mehr wird es wahrscheinlich,“ sagt Dillon, „daß Deutschland den Vertrag, den seine Delegierten vielleicht nicht einmal unterzeichnen werden, in einen Papierfetzen zu verwandeln versuchen wird.“ Dillon hat niemals die allgemeine Meinung der Alliierten geteilt, daß das völlig niedergedrückte Deutschland nur wünschte, alles zu unterschrieben und alles auszuführen. Graf Brockdorff-Rantzau habe am Mittwoch bereits den Eindruck gemacht, daß es da Grenzen gebe. „Die Alliierten rücken bereits zusammen, um in einer einheitlichen Front einen überwältigenden Druck auf Deutschland auszuüben. Sie sind entschlossen, keine Zeit zwischen passiver Resistenz, falls sie ausgeübt wird, und militärischem Zwang zu lassen, aber,“ fährt Dillon fort, „wir dürfen, so wenig wie die französischen Staatsmänner, uns selbst die schmerzliche Tatsache verbergen, daß die dem deutschen Volke auferlegte Buße nur mit Gewalt erzwungen werden kann, und nur so lange, als diese Gewalt wirklich ausgeübt wird. Deutschland kann den Alliierten nur passiv widerstehen, aber selbst diese Haltung kann peinliche Komplikationen überall herbeiführen. Trotzdem wird sie wahrscheinlich angewendet werden. Augenscheinlich läuft die Sache darauf hinaus, daß die alliierten Mächte sich gezwungen fühlen werden, die Verwaltung der von den deutschen Völkern bewohnten Gebiete zu übernehmen und dabei das Risiko zu laufen, das in der Berührung mit den irrsinnigen Bolschewisten liegt. Was aber auch geschehe, niemand kann aufrichtig glauben, daß selbst die feierlichsten Verpflichtungen, die Deutschland auferlegt werden, länger dauern als der reine Zwang, der zu ihrer Durchführung ausgeübt wird.“

            In holländischen Ententekreisen verlautet, daß Deutschland von dem entscheidenden Momente ab die höheren Beamten der Verwaltung und wahrscheinlich auch der Gerichte außer Dienst stellen und dadurch die Alliierten in vollem Maße in die Lagen bringen wird, die Verantwortung, die sie für das Schicksal Deutschlands durch die Friedensbedingungen übernommen haben, tatsächlich und unbehindert zu tragen.

            Reuters Bureau verbreitet, Präsident Wilson sei der Ansicht, daß die Deutschen über einen bestimmten Termin hinaus die Verhandlungen nicht verlängern dürfen und am 15. Juni alles erledigt sein müsse. So lange bleibe Wilson auch in Paris.

Emile Joseph Dillon (ca. 1919)

Quelle:

Das Berliner Tageblatt vom 16. Mai 1919, 48:221 (1919), Morgen-Ausgabe, S. 1.

In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/kalender/auswahl/date/1919-05-16/27646518/

 

Bild:
https://en.wikipedia.org/wiki/E._J._Dillon#/media/File:Emile_Joseph_Dillon_(1854-1933)_circa_1919.jpg

Glossar anzeigen
Ein Projekt des Weimarer Republik e.V. mit freundlicher Unterstützung

Glossar

Abkürzungs- und Siglenverzeichnis der verwendeten Literatur:

ADGBAllgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
AEGAllgemeine Elektricitäts-Gesellschaft
AfA-BundGeneral Free Federation of Employees
AVUSAutomobil-Verkehrs- und Übungsstraße
BMWBayrische Motorenwerke
BRTBruttoregistertonne
BVPBayerische Volkspartei
CenterZentrumspartei
DAPDeutsche Arbeiterpartei
DDPDeutsche Demokratische Partei
DNTDeutsches Nationaltheater
DNVPDeutsch-Nationale Volkspartei
DVPDeutsche Volkspartei
KominternCommunist International
KPDKommunistische Partei Deutschlands
KVPKonservative Volkspartei
MSPDMehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands
NSNationalsozialismus
NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei; Nazipartei
NVNationalversammlung
O.C.Organization Consul
OHLOberste Heeresleitung
RMReichsmark
SASturmabteilung; Brownshirts
SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands
SSSchutzstaffel
StGBPenal Code
UfAUniversum Film Aktiengesellschaft
USPDUnabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
VKPDVereinigte Kommunistische Partei Deutschlands
ZentrumDeutsche Zentrumspartei
[AB]August Baudert: Sachsen-Weimars Ende. Historische Tatsachen aus sturmbewegter Zeit, Weimar 1923.
[AS]Axel Schildt: Die Republik von Weimar. Deutschland zwischen Kaiserreich und „Drittem Reich“ (1918-1933), hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 2009.
[BauerBauer, Kurt, Nationalsozialismus. Ursprünge, Anfänge, Aufstieg und Fall, u.a. Wien 2008.
[BihlBihl, Wolfdieter, Der Erste Weltkrieg 1914 - 1918. Chronik - Daten - Fakten, Wien 2010.
[BüttnerBüttner, Ursula, Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933, Stuttgart 2008.
[DNV]Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, hrsg. v. Ed.[uard] Heilfron, Bd. 1 bis 6, Berlin [1919].
[Ebert/Wienecke-JanzEbert, Johannes/Wienecke-Janz, Detlef, Die Chronik. Geschichte des 20. Jahrhunderts bis heute, Gütersloh/München 2006.
[EK]Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik, 3. überarb. u. erw. Aufl., München 1993.
[EtzoldEtzold, Hans-Rüdiger, Der Käfer II. Die Käfer-Entwicklung von 1934 bis 1982 vom Urmodell zum Weltmeister, Stuttgart 1989.
[GG]Gitta Günther: Weimar-Chronik. Stadtgeschichte in Daten. Dritte Folge: März 1850 bis April 1945 (Weimarer Schriften, Heft 33), Weimar 1987.
[GrüttnerGrüttner, Michael, Das Dritte Reich 1933-1945 (= Bd. 19, Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte), Stuttgart 2014.
[HildebrandHildebrand, Klaus, Das Dritte Reich, 7. Aufl., München 2010.
[Kessler Tgbb]Harry Graf Kessler. Tagebücher 1918-1937, hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt a. M und Leipzig 1996.
[KittelKittel, Erich, Novembersturz 1918. Bemerkungen zu einer vergleichenden Revolutionsgeschichte der deutschen Länder, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 104 (1968), S. 42-108.
[KolbKolb, Eberhard, Die Weimarer Republik, 7. durchges. und erw. Aufl., München 2010.
[NiedhartNiedhart, Gottfried, Die Außenpolitik der Weimarer Republik, 2. aktualisierte Aufl., München 2010.
[O/S]Manfred Overesch/ Friedrich Wilhelm Saal: Die Weimarer Republik. Eine Tageschronik der Politik, Wirtschaft, Kultur, Düsseldorf 1992.
[Overesch/SaalOveresch, Manfred/Saal, Friedrich Wilhelm, Die Weimarer Republik, Eine Tageschronik der Politik, Wissenschaft Kultur, Augsburg 1992.
[PeukertPeukert, Detlef, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987.
[PK]Paul Kaiser: Die Nationalversammlung 1919 und die Stadt Weimar (Weimarer Schriften, Heft 16), Weimar 1969.
[PM]Paul Messner: Das Deutsche Nationaltheater Weimar. Ein Abriß seiner Geschichte. Von den Anfängen bis Februar 1945 (Weimarer Schriften, Heft 17), Weimar 1985.
[ThHB]Thüringen-Handbuch. Territorium, Verfassung, Parlament, Regierung und Verwaltung in Thüringen 1920 bis 1995, hrsg. von Bernhard Post und Volker Wahl, Redaktion Dieter Marek (Veröffentlichungen aus Thüringischen Staatsarchiven, Bd. 1), Weimar 1999.
[TofahrnTofahrn, Klaus W., Chronologie des Dritten Reiches. Ereignisse, Personen, Begriffe, Darmstadt 2003.
[UB]Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933. Leistungen und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008.
[VU]Volker Ullrich: Die Revolution von 1918/19, München 2009.
[WinklerWinkler, Heinrich-August, Weimar 1918-1933. Die Geschichte der Ersten deutschen Demokratie, München 1993.
[WirschingWirsching, Andreas, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, 2. erw. Aufl., München 2010.

(zusammengestellt von Dr. Jens Riederer und Christine Rost, bearbeitet von Stephan Zänker)