Zahnschmerzen und sonstige Angelegenheiten
Klemperer schreibt von Zahnschmerzen, die erst seine Frau Eva, dann ihn plagen. Trotzdem beschäftigt er sich mit Literatur. Außerdem berichtet er von seinem Revolutionstagebuch. Dieses erschien vollständig erst im Jahre 2015 unter dem Titel "Man möchte immer weinen und lachen in einem".
Volltext:
Dienstag Nachm. 13. Mai.
Gestern Vorm beim Zahnarzt mit Eva, für sie eine große, für mich gar keine Quälerei. Aber Abends begannen bei mir die Schmerzen, die mich heute ganz elend machten. Ich komme jetzt eben von Stüttgen; er half mir ein wenig durch Erweiterung eines Wurzelkanals. Sobald die Entzündung vorüber, soll diese Wurzel entfernt werden, u. eine andere, die des abgebrochenen Vorderzahnes auch.
Durch die Zahnarztverzögerungen, u. weil die Recension länger wurde, als ich gedacht, bin ich erst heute Vorm. mit der Lafontaine-Anzeige fertiggeworden u. habe sie nun, zusammen mit dem Article Genève, an Neumann geschickt. Eben beim Zahnarzt begann ich die Lectüre von Burckhardts »Kultur der Renaissance«. Es scheint mir eines von den Büchern, das man kennt, ohne es gelesen zu haben, weil es in den Allgemeinbesitz übergegangen ist u. von jedem gebraucht wird. Es soll den Auftakt meiner Studien zur roman. Lit. Gesch. bilden ... Heute werde ich auch mit dem Vorlesen der gräßlichen »Terre« fertig. Das ist kein Realismus mehr, d. ist übertriebene Schauergeschichte. -
Brief von Harms. Am 9. Mai hat er all meine Einschreibebriefe, das ganze Revolutionstagebuch erhalten; er wird es abschreiben lassen u. mir das Original zurückgeben. Vielleicht kann ein Teil nachträglich gedruckt werden. Ich bin immerhin zufrieden, daß mir das Ms. unverloren ist. Harms schickt eine Reihe eigener Leitartikel über Ursache des Krieges u. gegenwärtige Lage mit. Er ist Machtpolitiker, ohne unsocial, reactionär, antisemitisch zu sein, conservativ-sozial, demokratisch-alldeutsch. Gefreut hat mich gestern zu lesen, daß Leipzig von Regierungstruppen überrumpelt worden ist, ehe die Räterepublik ausgerufen werden konnte. -- Von Mutter eine Karte vom 10. Mai; ihr scheint es gut zu gehen. [...]
Quelle:
Nowojski, Walter (Hrsg.), Victor Klemperer. Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918 - 1924, Berlin 1966, S. 114 f.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Klemperer#/media/File:Klemperer--bild--um1930.jpg