Antisemitismus von Links? - Eine jüdische Mahnung
Die Allgemeine Zeitung für das Judenthums zieht eine sehr düstere Bilanz zum Monatsende. Die Waffenstillstandsbedingungen seien äußerst hart. Die erwartbaren Gebietsverluste seien enorm und die Ernährungslage katastrophal. Anscheinend würde die Entente in ihrem Rachegefühl versuchen Deutschland auszuhungern. Das Blatt sorgt sich daher um die bereits zu beobachtende Radikalisierung der deutschen Innenpolitik. Insbesondere die Juden würden nun zu Sündenbücken für die allgemeine Misere gemacht; und dies auch von linken Kräften. Man werde seinerseits jedoch zur Selbstwehr greifen, so die abschließende Warnung.
Volltext:
In Deutschland sieht es immer trüber aus. Die Waffenstillstandsbedingungen werden in vollster Härte ohne jede Milderung durchgeführt; die Auslieferung der Schiffe und Unterseeboote hat in einer Weise stattgefunden, die jedem ehrlichen Deutschen die Schamröte in die Wangen treibt; die rückflutenden Truppen werden, wenn sie nicht auf Tag und Stunde aus ihrem Standort abrücken, gefangengenommen, die zahllosen Verwundeten, die unmöglich rechtzeitig fortgeschafft werden können, werden als Gefangene betrachtet; der Einzug in Elsaß-Lothringen hat sich unter dem Jubel der französisch gesinnten Elsässer vollzogen, die Besetzung deutscher Gebiete jenseits und diesseits des Rheins steht unmittelbar bevor. Generalfeldmarschall Hindenburg, der sich bis zum letzten Moment als wahrhafter und aufrechter Mann bewährt, erklärt, daß nun ein Widerstand gegen die Feinde unmöglich sei, eine traurige Erklärung, welche beweist, daß das große deutsche Volk auf Gnade und Ungnade seinen Gegnern ausgeliefert ist.
Nicht minder traurig sind die Verhältnisse im Innern. Aufruhrversuche extremer Parteien zeigen sich; die Polen bedrängen in ungerechter Weise die Provinz Posen; Nordschleswig erklärt in offenster Art seine Zugehörigkeit zu Dänemark. Trotz alles Mühens der Reichsregierung, trotz der Erklärung Scheidemanns, daß ohne das baldigste Zusammentreten der Nationalversammlung ein Friede unmöglich [sei], will eine Gruppe Unentwegter von einer solchen Versammlung nichts wissen, und es ist nur ein schwacher Trost, daß in manchen Teilen Deutschlands die gesamte sozialdemokratische Partei sich für eine solche Nationalversammlung ausspricht, und auch die eben zusammengetretene, aus ganz Deutschland beschickte Reichskonferenz scheint sich für eine solche auszusprechen. Der Zusammenschluß aller Freigesinnten und mancher ehemaligen Konservativen, unter denen sich auch, was wohl bemerkt zu werden verdient, Prinz Friedrich Leopold von Preußen befindet, scheint gerade auf die ganz links Stehenden die schlimmste Wirkung zu üben, so daß sie in verhängnisvollster Art alle Anstrengungen machen, das Zustandekommen regelmäßiger Zustände zu hindern.
Dazu kommt, daß infolge des Mangels an Transportmitteln, zum Teil infolge der plötzlich eingetretenen Kälte, zum Teil infolge der zuströmenden Millionen und des Mangels an dem bisher aus den besetzten Gebieten für die Truppen und teilweise auch für Deutschland gelieferten Material, die große, furchtbare Gefahr einer Hungersnot besteht und täglich wächst. Auch eine wahrhafte Kohlennot droht, wenigstens für Berlin infolge des Streiks oberschlesischer Arbeiter, der noch nicht beendet ist. Ein schwacher Trost in allen diesen Uebeln ist der, daß Amerika sich ernstlich bereit erklärt hat, dem Mangel abzuhelfen, aber die Ententemächte, besonders Frankreich in seinem unauslöschlichem Haßgefühl, in seiner trotz des errungenen Sieges vorhandenen, ja immer stärker werdenden Rachsucht, scheint durchaus die Aushungerung Deutschlands durchführen zu wollen, die in dem furchtbaren Kriege nicht gelungen ist, einem Kriege, in dem das Herr und das Volk Deutschlands sich so heroisch gezeigt haben wie noch kein Volk in der Weltgeschichte. [...]
Wenn den Deutschen überhaupt, so muß den deutschen Juden noch ganz besonders schlimm zumute sein. Statt daß die allerdings sehr starke Beteiligung an der neuen Regierung die Lage der Juden im allgemeinen verbessert, scheint diese sich nur zu verschlimmern. Etwas wie Pogromstimmung, was man bisher in Deutschland seit Jahrhunderten nicht kannt, herrscht in Berlin und anderwärts. Man bemerkt sie in Gesprächen, man spürt sie vor allem in Anschlägen und Flugblättern. Unter den letzteren befindet sich ein auf rotem Papier gedrucktes, das in seinem zweiten Abschnitt sich gegen einen faulen Frieden wendet und von den Kapitalisten überhaupt redet, das aber in dem ersten sich ausschließlich gegen die Juden wendet und, wenn auch nicht direkt, so doch indirekt geradezu zur Vernichtung der Juden auffordert. Dieser Abschnitt lautet folgendermaßen:
"Arbeiter und Genossen!
1.500 Millionen Mark
haben amerikanische, englische und russische Juden, wie sie sich mit frecher Offenheit in ihren Zeitungen rühmen aufgebracht, um Deutsche gegen Deutsche, also Brüder gegen Brüder zu hetzen. [...]
Wer hat denn eigentlich Interesse am Untergang Deutschlands? Wir oder das internationale Judentum, das seine Weltherrschaft errichten will?
Wer hat die Völker aufeinandergehetzt?
Wer betrachtet den Krieg als ein großes Geschäft?
Wer will aus dem Frieden wieder ein Geschäft machen?
Wer treibt durch Wucher und Schleichhandel die Preise für Lebensmittel in die Höhe?
Wer sieht trotz Not immer noch fett und wohlgenährt aus?
Wer drückt sich in den Kriegsgesellschaften herum statt im Schützengraben?
Wir wissen es!
Wer steht jetzt in allen Ländern an der Spitze? In Rußland der Jude Trotzki geborener Bronstein! In Oesterreich sein Dutzfreund, der Jude Adler! Und ebenso steht es in Italien, in Frankreich, in England und in Amerika! Ueberall haden die Juden die Leitung und schöpfen den Rahm ab! [...]
Reißen wir denen die Maske vom Gesicht, die frech behaupten, sie kämpften mit uns gegen den Kapitalismus, während sie in Wirklichkeit sich stets schützend vor den Juden stellen, der die Kapitalmacht schon fast ganz besitzt und das heutige Elend verschuldet hat!"
[...] Wenn gegen solche furchtbaren Manifestationen nicht bald eine energische Abwehr erfolgt, so drohen den Juden, zumal in Berlin, die ernstesten Gefahren. Daher ist freudig anzuerkennen, daß sich in Berlin mit Bewilligung, ja mit Hilfe des Polizeipräsidiums eine "jüdische Selbstwehr" organisiert hat. Die der Zionisten ist gebildet, die der jüdischen Jugendvereine im Entstehen begriffen. Wir wünschen von Herzen, es möge nicht so weit kommen, daß diese jüdische Selbstwehr in Aktion treten müsse. [...]
Noch schlimmer als in Deutschland sieht es anderwärts aus. In der Provinz Posen scheinen die Juden bedenkliche Ausschreitungen zu erwarten, wie aus folgendem Aufruf hervorgeht, der mir von befreundeter Seite zugestellt wird:
Jüdische Mitbürger!
Ein jüdischer Volksrat zur Wahrung der nationalen und persönlichen Rechte der Juden in Stadt und Land Posen ist gebildet!
Jüdische Mitbürger! Wendet euch an uns in allen Fragen, die den Schutz eurer Rechte, Freiheit und Sicherheit betreffen.
Jüdische Soldaten! Sagt uns alle eure Sorgen, und verständnisvoller Rat und Hilfsbereitschaft sind euch sicher!
An der allgemeinen Bürgerwehr nehmen wir teil.
Quelle:
Allgemeine Zeitung des Judenthums Heft 48 vom 29.11.1918
In: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/3229387
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Friedensvertrag_von_Versailles#/media/File:Versailler_Vertrag.png