Erich Kuttner: "Sozialismus der kleinen Schritte"
Am Tage des Waffenstillstandes veröffentlicht setzt sich der Vorwärts-Redakteur Erich Kuttner (MSPD) in der Broschüre "Die deutsche Revolution" mit den großen Zielen der (politischen) Revolution auseinander und entwirft im Einklang mit der marxistischen Lehre einen Weg zum Sozialismus in kleinen Schritten. Eine "wirtschaftliche Revolution" sei nur so möglich, da sich die bislang unterdrückten Massen nur langsam aber stetig aus dem katastrophalen Ist-Zustand emporarbeiten können. Heute müsse man sich vor dem "gegnerischen Imperialismus" beugen, aber der deutsche Freiheitswille werde nicht brechen, wenn man bereit sei sich auf das moralische Recht eines freien Volkes zu stützen.
Volltext:
Unter eigener Verantwortung [1. Kapitel]
[...]
[A]uch nach innen hat uns das alte System entsetzliche Schulden hinterlassen. In den Volkskörper, in das Wirtschaftsleben haben sich schwere Schäden eingefressen. Ein Narr, der glaubt, daß nach solchen Verlusten wir bereits morgen im Lande sein können, in dem Milch und Honig fließt. Nein, es gilt mit zusammengebissenen Zähnen, mit eiserner Energie, mit nie versagendem Fleiß uns Schritt für Schritt aus dem Abgrund emporzuarbeiten, in den die preußischen Junker und ihr kaiserlicher Schirmherr das deutsche Volk hinabgeschleudert haben. Nicht Müßiggang winkt uns, sondern Arbeit. Aber diese Arbeit soll unser Glück sein. Sie soll unser Glück sein, weil sie mit dem Gefühl getan wird, daß wir nun nicht mehr für Fremde fronen, sondern an unserer eigenen Zukunft bauen.
Das soll nicht heißen, daß wir in der Kleinarbeit des Tages untergehen wollen. Ebenso schädlich wie phantastische Produkte, vielleicht noch schädlicher ist der Mangel an großen Plänen und Zielen. Die großen Ziele gilt es aufzustellen, die sich wirklich erreichen und, wenn auch unter Kämpfen und Mühen, in die Tat umsetzen lassen.
Ist der Weg zu ihnen einmal erkannt, dann wandle das Volk auf ihm mutig und unter eigener Verantwortung.
Der Friedensschluß [2. Kapitel]
Um uns wieder aufrichten zu können, brauchen wir zu allererst den Frieden. Der Waffenstillstand ist schon geschlossen, der Frieden muß ihm sobald als möglich folgen.
Die harten Waffenstillstandsbedingungen der Feinde lassen annehmen, daß ihnen ebenso harte Friedensbedingungen folgen werden. Wir haben dagegen keine Waffe, als das moralische und sittliche Recht eines freien Volkes auf Existenz, Selbstbestimmung und Würde. [...]
Natürlich werden diese [deutschen] Gewaltpolitiker jetzt der deutschen Republik die Schuld an den harten Friedensbedingungen aufzuhalsen suchen. Sie werden behaupten, wenn man nur den Krieg noch fortgesetzt hätte, wie sie es wollten, dann wäre alles viel besser geworden. Wir weisen solche Lügnerei mit Entrüstung und Ekel zurück. Ein Mensch muß irrsinnig sein, um im Ernste glauben zu können, daß nach dem Verlust sämtlicher Bundesgenossen, dem völligen Zerfall Oesterreichs, Deutschland noch mit Aussicht auf Erfolg hätte Widerstand leisten können. [...]
Es bleibt uns also nur übrig, von der Waffe unseres moralischen Rechts den besten Gebrauch zu machen. Dazu sind wir jetzt besser als je imstande. Nach den großen Tagen der Revolution lastet auch nicht mehr der kleinste Vorwurf auf dem deutschen Volke, daß es unter einer Herrschaft stände, von der die Welt das schlimmste jederzeit befürchten mußte, und die deshalb zu bändigen nottue.
Das deutsche Volk ist heute das freieste Volk der Welt!
[...]
Der wirtschaftliche Wiederaufbau [5. Kapitel]
Die Revolution hat die politische Herrschaft von einer kleinen bevorzugten Klasse auf die große Masse des Volkes, das ist in erster Linie die Arbeiterschaft, übertragen. Es ist kein Zweifel, daß mit ihr auch eine grundlegende Veränderung in der wirtschaftlichen Macht angebahnt worden ist. Nach diesem Kriege wird es nicht nur keine gekrönten Könige mehr geben, sondern auch keine ungekrönten Könige, wie Krupp, Stumm oder Fürst Henkel-Donnersmarck, die auf Grund unermeßlichen Besitzes eine Herrschaft über 100.000 oder mehr Lohnsklaven ausüben konnten, die oft noch willkürlicher, tyrannischer und drückender war, als die des alten Klassenstaats.
Aber die wirtschaftliche Umwälzung muß unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachtet werden, als die politische. Politische Verhältnisse lassen sich mit einem Schlage auf das allerradikalste umändern, wirtschaftliche nur durch planmäßigen Schritt für Schritt fortschreitenden Umbau. [...]
Es ist eine Utopie, zu glauben, daß die Arbeiterschaft, seitdem ihr die politische Macht zugefallen ist, nun den Sozialismus mit einem Schlage verwirklichen könnte. Daran ist nicht zu denken. Gewiß muß der Sozialismus das Ziel sein, aber dieses Ziel läßt sich nur verwirklichen, soweit und wo die wirtschaftlichen Verhältnisse für dasselbe reif sind. [...]
Bei der Durchführung des Sozialismus muß immer darauf geachtet werden, daß er eine negative und eine positive Seite hat. Die negative Seite ist die Enteignung der Bourgeoisie. Sie haben die russischen Bolschewisten am meisten im Auge gehabt und auch recht gründlich durchgeführt. Der bürgerlichen, besitzenden Klasse ist in Rußland so ziemlich alles genommen worden, was sie besaß.
Aber damit ist für das Proletariat noch so gut wie gar nichts erreicht. Denn nun kommt die positive Seite des Sozialismus, die Organisierung des enteigneten Besitzes zu höherer Produktivität, zu größerer Leistungsfähigkeit. [...] Wir wollen [Reichtümer] nicht verteilen, sondern erst recht zusammenhalten. An die Stelle der ziellosen Einzelproduktion zahlreicher selbstständiger Unternehmer soll die staatlich organisierte, planmäßige Produktion der Gesamtheit - durch die Gesamtheit und für die Gesamtheit - treten. Nicht das Kapital, sondern seine Erträge bilden die Masse, die zur Verteilung gelangt. [...]
So werden wir immer näher an den wirtschaftlichen Zustand herankommen, der als Sozialismus das Ziel unseres Strebens ist, an den Zustand, in dem Arbeit nur für sich selber arbeitet, in dem es keine schlemmenden Müßiggänger mehr gibt, in dem die Produkte der Arbeit nicht nach Willkür, sondern planmäßig und gerecht verteilt werden. Den Beginn des Sozialismus wird man nicht auf einen bestimmten Tag festsetzen können, wie wir jetzt als den Tag unserer Freiheit den 9. November feiern. Ohne uns dessen recht gewahr zu werden, werden wir einmal mitten in ihm sein, nachdem eine stetige Besserung der Verhältnisse des arbeitenden Volkes, eine stetige Verminderung des Elends und der Armut sein Nahen angekündigt hat.
Auf den Zustand hinzuarbeiten, in dem Elend und Not vergangene und vergessene Begriffe sind, in dem das Volk nicht nur im Besitz politischer Rechte ist, sondern auch im Vollbesitz des uns von unseren Vätern überkommenen und immer wachsenden ungeheuren Kulturgutes, das heute für die meisten Menschen ungenützt daliegt, auf den Zustand, in dem Ordnung, Wohlstand, Gesittung und Zufriedenheit, geistiges Streben und rüstiges Schaffen den Normalinhalt des menschlichen Lebens bilden, das ist die schönste und vernehmste Aufgabe der deutschen Volksrepublik. [...]
Die Göttin der Freiheit führt das deutsche Volk, - sie führt es empor zum Glück und zum Licht!
Quelle:
Erich Kuttner: Die deutsche Revolution. Des Volkes Sieg und Zukunft, Berlin 1918, S. 5ff., 13f. u. 16.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Erich_Kuttner#/media/File:Stolperstein_Burgherrenstr_4_(Templ)_Erich_Kuttner.jpg