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Hans Delbrück: "Wer hat Schuld am Kriege?"

Hans Delbrück gilt als "Vater" der zivilen deutschen Militärgeschichtsschreibung, da dieses Feld üblicherweise fest in der Hand militäreigener Historiker war. Als Professor erarbeitete sich Delbrück jedoch ein solches Renomee, dass er auch dezidiert kritische Sichtweisen auf die deutsche Militär- und Kriegspolitik vertreten konnte. In diesem Text widerspricht Delbrück der Deutung des Vorwärts, dass die Schuld der damaligen deutschen Regierung am Ausbruch des Weltkrieges bisher nicht bekannt gewesen sei. Vielmehr sieht und benennt Delbrück eklatante Fehler der Regierung und des Generalstabes, wobei er die vor allem in der USPD vertretene These von einer maßgeblichen deutschen Schuld entschieden zurück weißt.

Die Frage der Kriegsschuld war nicht erst zum Ende des Krieges hin gestellt worden, doch erlangte sie im Herbst 1918 eine verschärfte Brisanz. Es ging nicht nur um etwaige Entschädigungszahlungen an die Sieger, sondern auch um die moralische Legitimation der deutschen Parteien und des alten monarchischen Systems. Der Vorwärts betonte in einer Entgegnung auf Delbrück denn auch die eigene Sichtweise, dass es innerhalb der damaligen deutschen Führung keinerlei redlichen Motive gegeben habe, aber betont ebenfalls, dass es auf allen Seiten Kriegstreiber gesehen habe.

Die Schlacht der Schuldzuweisungen hatte mit dem Ende des eigentlichen Krieges erst richtig begonnen.

Volltext:

Die Schuld am Kriege

Eine Zuschrift von Prof. Hans Delbrück

Prof. Dr. Hans Delbrück schreibt uns:

Der Lerchenfeldsche Bericht wird vielfach und auch vom "Vowärts" so ausgelegt, als ob er eine bisher unbekannte Schuld der deutschen Regierung am Ausbruch des Weltkrieges enthüllt habe. Ich bitte Sie um der Gerechtigkeit willen, auch eine andere Auffassung zu Worte kommen zu lassen. Zunächst ist klar, daß der Lerchenfeldsche Bericht sachlich so gut wie nichts Neues enthält. Er bringt die Dinge nur in einer etwas anderen Beleuchtung, die allerdings sehr ungünstig erscheint, aber bei ruhiger Ueberlegung durch eine bessere ersetzt werden kann.

Der Bericht sagt uns, daß die Reise des Kaisers nach Norwegen, die Beurlaubung des Kriegsministers und des Chefs des Generalstabes in Berlin und in Wien auf Täuschung berechnet war. Das klingt sehr böse. Der Zweck dieser Täuschung aber war nicht etwa, den Krieg zu entzünden, sondern im Gegenteil, durch die Plötzlichkeit des Vorstoßes gegen Serbien, dessen Unterstützung durch Rußland zu erschweren und dadurch den Konflikt womöglich zu lokalisieren. Aus demselben Grunde wollte man auch erst die Abreise Poincarés aus Petersburg abwarten. Ist das tadelnswert?

Der Bericht sagt weiter, daß man es nicht gern gesehen hätte, wenn Serbien aus freien Stücken eine Genugtuung angeboten hätte. Das klingt wieder sehr konfliktlüstern, bedeutet aber im Zusammenhang des Ganzen etwas anderes. Wenn Serbien freiwillig eine Genugtuung angeboten hätte, so wäre sie natürlich ziemlich gemäßigt ausgefallen. Dann aber wäre nach der Auffassung der österreichischen, wie der deutschen Staatsmänner Oesterreich verloren gewesen. Serbien betrieb mit Unterstützung Rußlands eine groß angelegte, systematische Agitation zur Schaffung eines großen südslawischen Staates, der die Zerstörung Oesterreich-Ungarns bedingte. Ueber kurz oder lang mußte das notwendig zum Kriege führen. Das einzige Mittel, diesen Krieg zu verhindern, war, daß Oesterreich, ehe Rußland völlig kriegsbereit war, die Serben so sehr demütigte, daß sie ihre Großmachtträume fahren ließen. Wenn Oesterreich sich für die Ermordung seines Thronfolgers mit einer mäßigen Genugtuung gegnügte, so schwoll den Serben der Kamm erst recht und die Kriegsgefahr blieb nicht nur bestehen, sondern wuchs sogar noch. Wiederum also nicht um des Krieges, sondern um des Friedens willen hat die deutsche Regierung Oesterreich gedrängt, eine möglichst starke Genugtuung zu fordern!

Graf Lerchenfeld schreibt, nach Wiedergabe des Ultimatums: "Daß Serbien derartige, mit seiner Würde als unabhängiger Staat unvereinbare Forderungen nicht annehmen kann, liegt auf der Hand. Die Folge wäre also der Krieg." Das ist ein Urteil des Grafen Lerchenfeld, dem man sich nicht anzuschließen braucht. Serbien hätte, wenn es einen dauernden Frieden mit seinem mächtigen Nachbarn beabsichtigte, sehr wohl die Bedingungen des Ultimatums annehmen können, und das ist auch offenbar die Auffassung der deutschen Regierung gewesen, denn der Lerchenfeldsche Bericht legt des weiteren ausführlich dar, daß man in Berlin geglaubt habe, Rußland werde nur bluffen, es aber nicht zum Kriege treiben. Der Krieg wäre also auf Serbien lokalisiert geblieben, und man weiß, daß Herr von Bethmann Hollweg sich nachher alle Mühe gegeben hat, den Konflikt dadurch zu beendigen, daß Oesterreich sich mit der vorübergehenden Besetzung Belgrads begnüge. Der Weltkrieg ist erst dadurch entstanden, daß Rußland durch seine Mobilmachung diesen Plan zerriß.

Der ungeheure Irrtum der deutschen Regierung war, daß sie glaubte, Rußland werde sich die Demütigung Serbiens gefallen lassen, und der ungeheure Irrtum des deutschen Generalstabs war, daß er glaubte, die deutsche Armee werde in vier Wochen mit Frankreich fertig sein. Man mag über diese Irrtümer urteilen so strenge und so hart, wie man will, auf keinen Fall aber haben sie etwas zu tun mit der Beschuldigung, die deutsche Regierung habe den Krieg betrieben und angezettelt. Der Weltkrieg ist ausgegangen von dem panslawistisch-autokratischen Rußland, und wenn Deutschland Oesterreich zu energischem Vorgehen vorwärts getrieben hat, so hat es das getan in der Hoffnung, den Weltkrieg dadurch nicht zu entzünden, sondern zu vermeiden. Das konnte man schon aus den bisherigen Veröffentlichungen erkennen, und das wird durch die Veröffentlichung des Grafen Lerchenfeld lediglich bestätigt.

 

Entgegnung der Redaktion

Wir haben keinen Anlaß, den Abdruck dieser Zuschrift zu verweigern, um den uns Herr Prof. Delbrück im Namen der Gerechtigkeit ersucht, glauben aber nicht, daß es ihm gelingen wird, viele Anhänger zu finden. Die Meinungsverschiedenheiten über die Schuld der deutschen Regierung am Kriege erklären sich vielleicht daraus, daß diese Regierung als Ganzes etwas höchst Verschwommenes war, in dem die verschiedensten Strömungen durcheinanderliefen.

Neben zielbewußten Kriegstreibern, die den Sieg schon in der Tasche hatten, gab es Aengstliche, die besorgt in die Zukunft blickten, und Spitzfindige, die meinten, nur durch die schärfste Form der kriegerischen Drohung könnte der Frieden noch gerettet werden. Inmitten dieses chaotischen Treibens stand ein Herrscher, der seine neurasthenische [d.h. bedingt durch Erschöpfung der Nerven, Anm.] Haltlosigkeit hinter äußerer Strammheit und Schneidigkeit zu verbergen suchte. Ihm und seinem Bethmann ging es schließlich wie dem Mann in Schillers Bürgschaft:

Da packt ihn die Angst, da faßt er sich Mut

Und wirft sich hinein in die brausende Flut.

Nur daß in diesem Fall kein Gott Erbarmen hatte, und zwar, so weit es auf die damaligen Machthaber ankam, von Rechts wegen nicht. Sie haben ein höchst zweideutiges, moralisch höchst anfechtbares Spiel gespielt und haben es verloren, so daß auf sie auch noch besser die Worte passen, die auf dem Moltkedenkmal am Königsplatz geschrieben stehen: "Gottes Würfel fallen, wie sie fallen, immer auf die rechte Seite." Nach allem, was sie wußten und mitgemacht hatten, wirken ihre Beteuerungen der eigenen Unschuld am Kriege im höchsten Grade kläglich. Sie sind gerichtet für alle Zeit.

Zugegeben ist aber, daß die rücksichtslose Enthüllung des deutschen Anteils an der Kriegschuld auch einen Nachteil hat, nämlich den, die Mitschuld der Kriegstreiber auf der anderen Seite vergessen zu lassen. Die zaristischen Agenten und Generäle könnten am Ende noch vor der Weltgeschichte als weißgewaschene Unschuldsengel erscheinen, und das hat die Weltgeschichte nicht verdient. Haben wir also allen Anlaß, die Zimmermann und Genossen [bezieht sich auf die sog. Zimmermann-Depesche, Anm.] anzuklagen, so haben wir durchaus keinen, die [Wladimir] Suchomlinow [russ. Kriegsminister bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Anm.] und Genossen zu verteidigen.

Nach Friedensschluß wird sich wahrscheinlich in jedem Lande ein Gerechter finden, der beweisen wird, daß die Regierung seines Landes am Kriegsausbruch die größte Schuld trägt, und daraus wird dann ein neues Regenbogenbuch entstehen als Gegenstück zu jener Zusammenfassung der verschiedenen Weiß-, Blau-, Gelb-, Rot- und Gründbücher, in denen seinerzeit jede Regierung ihre vollkommene Unschuld bewies.

Nebenbei gesagt: so erklärt es sich auch, daß manche Sozialdemokraten in völlig gutem Glauben den größeren Teil der Schuld auf der anderen Seite vermuteten. Diese Genossen, wie es von gewisser Seite geschieht, als "Mitschuldige", "Hehler" usw. hinzustellen, ist eine sehr durchsichtige Mache. Die Sozialdemokratie hat die deutsche Kriegspartei zunächst als solche und dann, als sie sich nach Erreichung ihres ersehnten Ziels verkleidete, als "Vaterlandspartei" stets mit allen Kräften bekämpft. Ein besseres Gewissen als sie kann man in dieser Beziehung gar nicht haben.

Hans Delbrück

Quelle:

Vorwärts Nr. 326 / Jg. 35 vom 27.11.1918

In: http://fes.imageware.de/fes/web/

 

Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Delbr%C3%BCck#/media/File:Hans_Delbrueck.jpg

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Ein Projekt des Weimarer Republik e.V. mit freundlicher Unterstützung

Glossar

Abkürzungs- und Siglenverzeichnis der verwendeten Literatur:

ADGBAllgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
AEGAllgemeine Elektricitäts-Gesellschaft
AfA-BundGeneral Free Federation of Employees
AVUSAutomobil-Verkehrs- und Übungsstraße
BMWBayrische Motorenwerke
BRTBruttoregistertonne
BVPBayerische Volkspartei
CenterZentrumspartei
DAPDeutsche Arbeiterpartei
DDPDeutsche Demokratische Partei
DNTDeutsches Nationaltheater
DNVPDeutsch-Nationale Volkspartei
DVPDeutsche Volkspartei
KominternCommunist International
KPDKommunistische Partei Deutschlands
KVPKonservative Volkspartei
MSPDMehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands
NSNationalsozialismus
NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei; Nazipartei
NVNationalversammlung
O.C.Organization Consul
OHLOberste Heeresleitung
RMReichsmark
SASturmabteilung; Brownshirts
SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands
SSSchutzstaffel
StGBPenal Code
UfAUniversum Film Aktiengesellschaft
USPDUnabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
VKPDVereinigte Kommunistische Partei Deutschlands
ZentrumDeutsche Zentrumspartei
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(zusammengestellt von Dr. Jens Riederer und Christine Rost, bearbeitet von Stephan Zänker)