Harry Graf Kessler: "Als Diplomat in außerordentlicher Mission"
Kessler berichtet hier von seiner Berufung zum deutschen Gesandten in Polen. Insbesondere USPD-Vertreter trugen ihm eine möglichst polenfreundliche Mission zum Neuaufbau nachbarschaftlicher Beziehungen auf. Größte Streitpunkte mit dem sich konstituierenden Staat Polen waren die östlich von Polen gestrandeten deutschen Truppen von Ober Ost - trotz Deserteuren immerhin noch gut 500.000 Soldaten - und die Behandlung deutscher Verwaltungsbeamte durch die neuen polnischen Behörden.
Der liberale Pazifist entwirft ein neues außenpolitisches Programm, welches auf der Freiheit der Völker und Individuen fußen müsse. Wie auch der unten im Text erwähnte Hellmut von Gerlach wird Kessler für sein Bemühen um eine deutsch-polnische Aussöhnung von beiden Seiten stark angefeindet werden.
Volltext:
18 November 1918. Montag. Berlin.
Ich bin noch immer in Berlin, trotz der flehentlichen Hilferufe der Deutschen in Polen nach einem deutschen Vertreter. Erst heute Abend um 8 bekam ich mein von [Friedrich] Ebert und [Hugo] Haase unterzeichnetes Beglaubigungsschreiben bei der Polnischen Regierung:
„Von dem Wunsche geleitet, der Herstellung friedlicher und freundschaftlicher Beziehungen zwischen dem Deutschen Reiche und dem Polnischen Staate jede mögliche Sorgfalt zu widmen, hat die Deutsche Volksregierung beschlossen, den Gesandten Grafen von Kessler als diplomatischen Vertreter des Reiches in ausserordentlicher Mission bei der polnischen Regierung nach Warschau zu entsenden. In der Überlegung, dass es dem Grafen von Kessler gelingen wird, das mit dieser Berufung in ihn gesetzte hohe Vertrauen zu rechtfertigen, ist ihm das gegenwärtige Einführungsschreiben erteilt worden. Die Deutsche Volksregierung bittet, ihn bei Überreichung dieses Schreibens mit Wohlwollen aufzunehmen und ihm vollen Glauben beizumessen in allem, was er im Auftrage der Deutschen Volksregierung vorzutragen berufen sein wird. Mit der Versicherung ausgezeichnetster Hochachtung
Der Rat der Volksbeauftragten Ebert, Haase.“ –
Die schriftliche Bestätigung des Vollzugsrats der Arbeiter und Soldaten steht noch immer aus. Allerdings telephonierte mir [Rudolf] Breitscheid [USPD, preußischer Innenminister zusammen mit Paul Hirsch-MSPD, Anm.] mittags, sie sei im Prinzip erteilt. Spät Abends meinen neuen Legationssekretär Dr. Meyer ins Herrenhaus geschickt, um die Unterschrift des Vollzugsrats unter meiner Ernennung zu erwirken. –
Wenn morgen das Agrément der polnischen Regierung eintrifft, können wir morgen Abend reisen. –
Morgens meldete sich bei mir wieder der mir beigegebene sozialdemokratische Rechtsanwalt [Carl] Rawitzki: Ich bat Hatzfeld, ihn für die Dauer seiner Tätigkeit in Warschau zum Legationsrat ernennen zu lassen, damit er nach mir die erste Stelle einnimmt. Bis vor zwei Monaten war er Armierungssoldat u. als solcher meistens vorne. Er erzählte vom grossen Hass der Soldaten gegen die Offiziere; ähnlich wie Wieland Herzfelde. Hauptsächlich wegen der Bevorzugungen und dem rücksichtslosen Gebrauch, den die Offiziere davon machten. Am schlimmsten und verhasstesten seien die Feldwebelleutnants gewesen. Die Verpflegung für die Soldaten sei zum grossen Teil unterwegs hängengeblieben. Man gewinnt doch allmählich den Eindruck eines grossen moralischen Fehlschlagens des Offizierkorps, wodurch eigentlich der Krieg verloren gieng. Z. B. in der unrechtmässigen Aneignung von Verpflegung, in einem unleidlichen Dünkel und Ton, in stellenweise direkter Bestechlichkeit. Die preussische Armee war nicht auf materielle Gesinnung des Offizierkorps zugeschnitten. Der ungeheure Aufschwung hat sie unterwühlt. –
Mittags wurde ich von Haase empfangen im Reichskanzlerpalais, nachdem mir Baake gesagt hatte, dass er einen Wunsch für mich habe. Zunächst trug er mir Grüsse an [Ignacy] Daszynski [Polnischer Ministerpräsident und Sozialist, Anm.] u. einen Dr Marchlewski auf. Letzterer ein Freund von Daszynski. Daszynski u. Marchlewski hätten ihn telegraphisch ersucht, ihnen einen Fernschreibeapparat zur Verfügung zu stellen, damit sie mit gewissen Freunden in Berlin verkehren könnten. Ich solle ihnen sagen, er habe diesen Wunsch nicht erfüllen können, weil wir nur einen Fernschreibeapparat mit Warschau hätten, dieser im Ausw. Amte stehe, und mit einem Apparate im Amte, wo Diskretion nicht sicher sei, Daszynskis Zwecken kaum gedient sei. Auf die allgemeine Politik übergehend, beauftragte mich Haase, schleunigst unsere Truppen aus der Ukraine herauszubekommen; deshalb den Durchzug durch Polen von Pilsudski zu erwirken. Ich könne etwaige Befürchtungen, dass unsere Truppen aus der Ukraine gegen Polen verwendet werden sollten, auf das nachdrücklichste zerstreuen. Grund zur Eile gebe Folgendes, das ich nicht Pilsudski sagen solle, selber aber wissen müsse. Nach Haases Überzeugung bereite die Entente einen Angriff gegen Grossrussland, d. h. den russischen Bolschewismus, zugleich von Norden und von Süden vor; aus der Ukraine und aus der Gegend des Baltikums. Unsere Truppen in der Ukraine kämen dadurch zwischen zwei Feuer. Deshalb müssten sie schnellstens hinaus. „Solange Haase in der Regierung und gegenwärtiges Regiment am Ausw. Amte bestehen blieben, würden sie, so könne ich Pilsudski sagen, das innigste Bestreben haben, mit dem polnischen Staate in den engsten und freundschaftlichsten Beziehungen zu leben.“ Haase und Ledebour hätten früher das Recht der Polen auf einen selbständigen Staat anerkannt als die Polen selber, die im Reichstage sassen. Dass aber Westpreussen nicht an Polen fallen könne, sei selbstverständlich. Haase erinnerte mich heute mit seinem feinen katzenertigen Wesen und schmächtigen Körper noch mehr wie neulich an Chlodwig Hohenlohe [Deutscher Reichskanzler 1894-1900, Anm.]. Er gehört offenbar zu den Vermittler Naturen, hat aber irgendwo einen komplizierten Mechanismus, der aus feiner Konjunktur Erkenntnis und empfindlichem jüdischem Gewissen zusammengesetzt, ihn plötzlich starr einstellen kann auf irgendeine Haltung. Dieser Wechsel zwischen Schroffheit und Vermittlung hat ihm wahrscheinlich den Ruf der Unzuverlässigkeit eingetragen; gleichzeitig die sehr verschiedene Beurteilung seiner Persönlichkeit durch gleich kompetente Leute. –
[...]
Nachmittags um 4 Versammlung der jüngeren Beamten des Ausw. Amtes, die den Aufruf unterzeichnet haben, im Kaiserhof im Hohenzollernsaal. Ferdinand Stumm präsidierte. Farbe etwas akademisch, Riezlerisch. Ich versuche, soweit ich kann, sie nach links festzulegen; verlangte Knochen, irgendetwas Hartes, worauf man baue und von dem man nicht ablasse. Drum herum könne meinetwegen auch Molluskenhaftes sein, zum Aufputz, über das man handeln könne; aber ein Rückgrat, und ein absolut steifes, sei irgendwo im Programm u. in der Gesinnung nötig. Das, was bisher als Skelett der ganzen Staatsanschauung gegolten habe, die monarchische Gesinnung, habe sich als durch u. durch morsch erwiesen. Daher gelte es, jetzt ein neues Gerüst finden. Ich möchte als solches auf dem definitiv anzuerkennenden Boden der Republik und des Sozialismus den Kampf um das Selbstbestimmungsrecht und die möglichste Freiheit des Individuums. Trotz Sozialismus, oder gerade weil Sozialismus, keine Staatssklaven, sondern freie Menschen. In der Ausw. Politik Selbstbestimmungsrecht der Völker und gerechte Rohstoffverteilung, den wachsenden oder schwindenden Bedürfnissen der Völker jeweilig angepasst. Kein starrer Völkerbund. Freiheit der Meere und Häfen für die Schiffahrt. Also: freie Meere, freie Völker, freie Menschen. Selbstbestimmungsrecht der Völker innerhalb des Völkerbundes, Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen innerhalb des sozialistischen Staates.
[...]
Im Amt kam zu Hatzfeldt ein aus Lodz geflüchteter Dr Pick, dort Pressechef. Er sagt, die Legionäre, „kleine Jungens“ hätten dort etwa 15 deutsche Beamte (hauptsächlich Kassenbeamte) verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Er und die mit ihm flüchtenden Deutschen seien auf dem Kalischer Bahnhof in Lodz und im Zuge ausgeplündert worden, Kleider, Strümpfe, Gepäck fortgenommen. Im Zuge seien Schüsse gewechselt. Die Sache habe sich bis Ostrowo fortgesetzt. Es bestehe eine grosse Gefahr für das Leben aller Reichsdeutschen in Lodz. Pilsudski scheine nicht genug Herr der Lage zu sein u. laviere deshalb. –
Ich müsse Pilsudski auffordern, sein Äusserstes zu tun; besser werde die Lage aber erst werden, wenn Bahn u. Telegraph wieder in deutschen Händen, oder in Händen der Deutschen u. Polen gemeinsam seien. Ein Panzerzug und drei bis vier Tausend Mann könnten Dieses bewirken, Pilsudski werde protestieren, aber im Herzen froh sein, weil es ihn vor dem Bolschewismus rette. Die Gefahr bestehe, dass die Entente die Ordnung wieder herstelle. Fortwährend treffen auch Telegramme aus Polen ein, die um Hülfe und Bestellung eines deutschen Vertreters bitten; auch von Soldatenräten. –
Gegen 6. telephonierte mir Breitscheid, dass die Lage in Posen bedenklich sei; [Hellmut von] Gerlach fahre heute Nacht hin. Ich möchte doch Breitscheid noch vor meiner Abreise sehen, damit er mir über Posen noch Einiges mitteile.
Quelle:
Riederer, Günter, Hilse, Christoph (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Sechster Band 1916-1918, Stuttgart 2004, S. 648 - 651.
Bild 1:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hugo_Haase#/media/File:Haase_1905.jpg
Bild 2:
https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Breitscheid#/media/File:BreitscheidRudolf.jpg
Bild 3:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hellmut_von_Gerlach#/media/File:Gedenktafel_Genthiner_Str_48_(Tierg)_Hellmut_von_Gerlach.jpg