Harry Graf Kessler: "Wo ist Pilsudskis harte Hand?!"
In Warschau angekommen findet Kessler als neuer deutscher Botschafter keine Ruhe. Es herrscht in seiner Wahrnehmung eine stark aufgeheizte, anti-deutsche Stimmung in der Stadt. Weder die diplomatische Unversehrtheit seines Büros, noch seine persönliche Sicherheit könne von den polnischen Behörden garantiert werden; auch wenn Appelle an dem Kessler aus Magdeburg bekannten Sosnkowski leichte Abhilfe schaffen.
Pilsudski sei jedoch offenbar noch zu schwach, um sich gegenüber der nationaldemokratischen Opposition [heute: Nationalradikales Lager] oder selbst seiner eigenen sozialistischen Partei - der PPS - durchsetzen zu können. Dies verleitet Kessler zu entsprechenden Feststellungen über den polnischen Nationalcharakter.
Volltext:
24 November 1918. Sonntag. Warschau.
Heute früh war von [Kazimierz] Sosnowskis Schutzmassregeln noch Nichts zu sehen. Um 9 brachte Gülpen vom Sachsenplatz drei Mann, die sich mit aufgepflanztem Bajonett auf dem Korridor vor meinem Zimmer aufstellten. Um halb zwölf kam die für die Gesandtschaft bestimmte Wache; ein Zug Infanteristen. Um die Mittagszeit ziehen fortwährend in langsamsten, feierlichen Schritt Trupps P.P.S. Leute [polnische Sozialisten, Anm.] mit roten Fahnen am Hotel vorbei zum Sachsenplatz, wo grosse Versammlung ist. Um dieselbe Zeit meldet sich bei mir ein polnischer Leutnant, der von Mieckiewicz beauftragt ist, für mich eine Gesandtschaftswohnung zu suchen. Er will sie bis morgen finden.
Drei Viertel eins Ansammlung von einigen hundert Menschen vor dem Hotel. Die Direktoren lassen sich melden u zeigen sich besorgt für meine Sicherheit. Sie sind terrorisiert, meinen die Wache sei nicht zuverlässig, kurz, wollen mich möglichst schnell los sein. Gefrühstückt bei Langner. Der Kaisermaler Kossak, der jetzt hier in der Uniform eines polnischen Rittmeisters herumläuft und an einem Nebentisch sass, rief einem Bekannten im Saale laut zu: „Je ne voudrais pas être dans la peau de l’Ambassadeur; il va passer un mauvais quart d’heure.“ ["Ich möchte nicht in den Schuhen des Botschafters stecken; er wird eine üble Viertelstunde haben", Anm.] Dann erkannte er mich, stellte sich vor und entschuldigte sich.
Nachmittags bei Korff. Gülpen meldet, dass vor dem Hotel die Menge bis an die gegenüberliegenden Häuser sich staut, die Wagen der Elektrischen stecken bleiben, die Wache bis in die Hoteltür zurückgedrückt ist. Ich setzte eine Meldung nach Berlin auf, die ich versuchen werde chiffriert hinzufunken. Alle telegraphischen Verbindungen sind unterbrochen. Wassiliewski hat heute früh Meyer, den ich hinschickte, erklärt, dass das polnische Aussenministerium jede Garantie für unsere persönliche Sicherheit übernehme. Später schränkte er das Strahl gegenüber ein, indem er sagte Garantieen könne es zwar nicht übernehmen, es werde aber Alles tun, was möglich sei. Abends um 7 meldet Meyer, dass die Menge die Gesandtschaftswache überrannt, ins Hotel eingedrungen und meine Zimmer sowie die sämtlicher Gesandtschaftsmitglieder durchsucht hat. Unser Gepäck war vorher durch den Direktor in den fünften Stock geschafft worden. Eine Aufforderung, sofort jemanden auf das Ministerium zu schicken, fand Meyer im Hotel vor. Im Ministerium wurde Meyer eröffnet, wir müssten noch heute Abend umziehen. Eine Wohnung werde uns um Neun Uhr im Ministerium bezeichnet u. zur Verfügung gestellt werden. Meyer liess sich zum Minister Wassiliewski führen u legte Protest ein gegen die völkerrechtswidrige Behandlung, die uns zu Teil werde, indem die polnische Regierung trotz ihrer Garantie uns nicht gegen die Durchsuchung der von der Gesandtschaft benutzten exterritorialen Räume geschützt habe.
Ich setzte mit Meyer die Meldungen nach Berlin auf, die ich morgen per Bahn durch einen unserer Chiffreure hinschicke, da alle telegraphischen Verbindungen unterbrochen sind. Zu Nacht gegessen im Restaurant Angielski. Im Ministerium wurde Meyer gesagt, sieben Zimmer stünden in zwei verschiedenen Wohnungen zur Verfügung, aber ungeheizt u zum Teil unbeleuchtet. Ich gieng mit Fürstner in die uns vom Bankdirektor Theusner angebotenen Räumlichkeiten in seinem „Heim“ an der Nierzbower. Die Gesandtschaft ist in der grossen Stadt drolligerweise trotz aller angeblichen Anstrengungen der polnischen Behörden wie ein gehetztes Wild.
Offenbar ist die jetzige Regierung zu schwach, um Ordnung zu halten. Die Polen sind nur mit einer eisernen Faust und viel Glanz und Ruhm zu regieren. Daher bieten sie das beste Material für einen imperialistischen Grossstaat, wenn der richtige brutale und ehrgeizige Mann an die Spitze kommt. Allerdings sind sie selbst politisch Kinder. Deshalb sind die bisherigen polnischen Imperien immer bald zerfallen, wenn eine überragende Persönlichkeit an der Spitze fehlte. Vieles hiervon ist auch von Preussen-Ostelbien wahr.
Quelle:
Riederer, Günter, Hilse, Christoph (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Sechster Band 1916-1918, Stuttgart 2004, S. 666 - 668.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%B3zef_Pi%C5%82sudski#/media/File:PL_Turek_Pilsudski_Monument_11.jpg