Die Weimarer Republik – Deutschlands erste Demokratie

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Minna Cauer: "Frauen, seid groß und handelt groß!"

Bereits zum 16. Nov. war ein Aufruf der DDP als "großer demokratischer Partei des einigen Reiches" in der liberalen Presse veröffentlicht worden. Zwar waren die Verhandlungen über eine völlige Zusammenführung der alten links- und rechtsliberalen Parteien an der Personalie Gustav Stresemanns gescheitert, aber zahlreiche namhafte Persönlichkeiten wie u.a. Hugo Preuß, Theodor Wolff, Hellmut von Gerlach, sowie Max und Alfred Weber hatten den Aufruf unterzeichnet.

Neben Max Webers Frau - der Frauenrechtlerin Marianne Weber - findet sich lediglich eine weitere Unterzeichnerin auf dem Aufruf: Minna Cauer, die Grande Dame der bürgerlichen Frauenwahlrechtsbewegung. In ihrem separaten Aufruf "An die Frauen!" vom 21. Nov. setzt sich Cauer kritisch mit der oftmals passiven politischen Haltung von Frauen auseinander und fordert energisch ihre Politisierung und mehr Engagement ein. Neben Bürgern brauche die Republik auch Bürgerinnen, sonst werde sie an den Riesenaufgaben scheitern!

Vertreterinnen des Verbandes für Frauenstimmrecht (Cauer 2. von rechts)

Volltext:

Eine Wandlung vollzieht sich im Weltall wie nie zuvor, selbst die Französische Revolution mit ihren gewaltigen neuen Ideen erblasst dagegen. Nach einem Kriege voller unsäglicher Leiden, nach einer Zeit der erbittertsten Verhetzung und Hasses suchen Völker nach neuen Mitteln und Wegen, um einen Neubau ihrer Staaten herbeizuführen.

Deutsche Frauen, macht euch klar, alle, alle, dass die alte Zeit, dass alte System, alte Methoden im Versinken sind! Für viele wird es unendlich schwer, ja schmerzlich sein, für viele aber und für vieles erscheinen Hoffnungssterne an dem noch umdüsterten Himmel.

Was ihr ertragen und gelitten habt, was ihr verloren habt, ihr trugt es in Geduld und mit Schweigen, vielleicht mit zu viel Geduld und nur mit einem dumpfen, grollenden Schweigen.

Was ihr mitgeholfen, mitgearbeitet habt, kann nie vergessen werden. Ihr stellet euch ohne Mann in den Dienst der Zeit und der Verhältnisse, wo immer Anforderungen an euch gestellt wurden. - unermüdlich, unverdrossen. Ihr fraget nicht nach dem Warum, nicht nach den Ursachen dieses gewaltigen Geschehens. - ihr arbeitet, euer Tun war Hilfe, Hilfe und immer wieder Hilfe, - über vier Jahre in dieser furchtbaren Weltkatastrophe.

Eine Welt ist in Trümmer gegangen! Daran ist nichts mehr zu ändern. Blickt vorwärts, nicht rückwärts!

Man sagt, die Frauen wären im allgemeinen das konservative, das erhaltende, ja sogar das hemmende Prinzip in der Entwicklung der Menschheit. Es gilt jetzt nicht, sich in philosophischen Betrachtungen darüber zu ergehen, es gilt wirken, Stellung nehmen, schaffen, mit aufbauen. Vielleicht kommt man, wenn ruhigere Zeiten wieder eingekehrt sein werden, auch zu anderen Schlüssen über das Wesen des weiblichen Geschlechts als bisher. Nur jetzt keine Deklamationen darüber! Auch diese Zeit ist vorbei, wo das Frauengeschlecht als minderwertiges angesehen wurde.

Ein neues Staatswesen soll aufgebaut werden. Eine neue Regierung ist am Ruder, - eine Regierung mit völlig anderen Grundsätzen und anderen Zielen. Eine Regierungsform zerbrach, die vielen lieb und wert war, oftmals nur lieb aus Bequemlichkeit, aus Gewohnheit. Viele ertrugen die Schäden dieser veralteten Methode ohne viel Nachdenken; viele ergingen sich, auch die Frauen, oft darüber in Klagen und Anklagen ohne Erforschung tieferer Ursachen und ihrer unheilvollen Wirkungen.

Das Erwachen aus diesem sorglosen und harmlosen Dahinleben ist sicherlich für einen grossen Teil der Männer und Frauen ein ergreifendes, ein erschütterndes. Wohl denen, die sich bald wieder zur Kraft und zur Tat emporraffen können, - Kräfte und Taten erfordert diese Zeit, wenn unser viel gequältes Volk nicht erliegen soll.

Frauen, auch an euch geht der Ruf! Rafft euch auf, wie immer ihr euch auch bis jetzt zu den politischen Verhältnissen verhalten habt, ob passiv oder bequem ohne Nachdenken alles hinnehmende oder aktiv lebhaft, zielbewusst und mit prinzipieller Stellungnahme zu der Entwicklung unseres Landes.

Die Zeit ist vorüber, wo ihr nicht mehr unverantwortlich seid für die Verhältnisse und Dinge, die sich von nun an in der Welt abspielen.

Mit einem gewaltigen Ruck stehen wir vor völlig anderen Bedingungen, vor dem Neubau unseres Landes.

Deutschlands Zukunft liegt von nun an in der republikanischen Regierungs- und Verfassungsform. Durch diese neue Form sollt ihr, die deutsche Frauenwelt, zu gleichberechtigten Bürgerinnen werden. Für viele ein kaum zu fassender Begriff, für viele eine große, innere Freude, die sie mit Stolz erfüllt. Nur so, nur so allein können die Frauen am Werden ihres Landes tätig mitschaffen. Und sie müssen es, müssen, wenn anders nicht einst der Fluch ihrer Kinder sie treffen soll, dass eine anbrechende neue Zeit ein jammervoll kleines Geschlecht gefunden hat.

Das darf nimmermehr sein!

Stellt euch der Regierung zur Verfügung, dient ihr mit euren Kräften. Bedenkt, welch eine Riesenaufgabe sie zu erfüllen hat. Sie trägt die Last der alten Schäden noch mit sich und soll doch das Neue von Grund auf beleben und die Mittel und Wege zum Neubau aufwerfen.

Es rächt sich jetzt, dass die Frauenwelt Deutschlands sich meist passiv den grossen Fragen und Problemen gegenüber verhielt, wie das Bürgertum im allgemeinen. Es rächt sich, dass die Frauenwelt Deutschlands zum grössten Teil vom politischen Leben nichts wissen wollte.

Die Einberufung der Nationalversammlung steht vor der Tür. Jede Frau kann wählen. Erst dann, wenn die republikanische Verfassung feststeht, wird die politische Gleichberechtigung der Frau zum Gesetz erhoben werden. Erst dann ist sie Bürgerin des Staates.

Was sollen wir tun, so tönt es aus allen Briefen und Anfragen heraus. Nun denn, euch vorbereiten für diesen wichtigen Akt der Freiheit und des Rechts eines Volkes, sich seine Vertreter und seine Verfassung selbst zu wählen.

Die grossen Organisationen aller Kreise haben die Aufgaben, Aufklärungsarbeit zu leisten, besonders unter den Frauen. Warum verhalten sich diese Organisationen schweigend?

Handeln, handeln heisst es jetzt! Wir rufen euch auf. Wir appellieren an alle, die die grosse gewaltige Umwälzung  zu verstehen sich bemühen, die den Ernst der Lage begreifen, die mithelfen, mitretten wollen. Steht nicht abseits, bleibt nicht fern! Eine Republik erfordert Männer und Frauen, die den Mut der Tat haben, sie erfordert Männer und Frauen, die den Mut des Bekennens haben.

Frauen, seid gross und handelt gross! Die Zeit verlangt grosszügige, grossdenkende und weitschauende Frauen!

Quelle:

Berliner Tageblatt vom 21.11.1918 (Wochen-Ausgabe)

In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/kalender/auswahl/date/1918-11-21/27646518/

 

Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Minna_Cauer#/media/File:Anita_Augspurg_(1896).jpg

Glossar anzeigen
Ein Projekt des Weimarer Republik e.V. mit freundlicher Unterstützung

Glossar

Abkürzungs- und Siglenverzeichnis der verwendeten Literatur:

ADGBAllgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
AEGAllgemeine Elektricitäts-Gesellschaft
AfA-BundGeneral Free Federation of Employees
AVUSAutomobil-Verkehrs- und Übungsstraße
BMWBayrische Motorenwerke
BRTBruttoregistertonne
BVPBayerische Volkspartei
CenterZentrumspartei
DAPDeutsche Arbeiterpartei
DDPDeutsche Demokratische Partei
DNTDeutsches Nationaltheater
DNVPDeutsch-Nationale Volkspartei
DVPDeutsche Volkspartei
KominternCommunist International
KPDKommunistische Partei Deutschlands
KVPKonservative Volkspartei
MSPDMehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands
NSNationalsozialismus
NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei; Nazipartei
NVNationalversammlung
O.C.Organization Consul
OHLOberste Heeresleitung
RMReichsmark
SASturmabteilung; Brownshirts
SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands
SSSchutzstaffel
StGBPenal Code
UfAUniversum Film Aktiengesellschaft
USPDUnabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
VKPDVereinigte Kommunistische Partei Deutschlands
ZentrumDeutsche Zentrumspartei
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(zusammengestellt von Dr. Jens Riederer und Christine Rost, bearbeitet von Stephan Zänker)