Die Weimarer Republik – Deutschlands erste Demokratie

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Philipp Scheidemann: "Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht?"

Der Volksbeauftragte Scheidemann - der auch der erste Kabinettschef nach Nachrevolutionszeit werden sollte - berichtet im Vorwärts über seine Ideen für die technische Ausgestaltung der ausgerufenen Wahl zur Nationalversammlung. Nicht nur Frauen dürfen das erste Mal überhaupt bei einer reichsweiten Wahl abstimmen, sondern auch aktive Soldaten. Während das Frauenwahlrecht selbst im Dritten Reich nicht wieder abgeschafft werden sollte, wird es bis 1957 dauern bis (westdeutsche) Soldaten sich wieder an freien Wahlen beteiligen durften.

Scheidemann setzt sich hier entschieden für das Verhältniswahlrecht gegenüber dem Mehrheitswahlrecht, welches bei allen vorherigen Wahlen zum Reichstag angewandt wurde. Zwar konzentriert sich Scheidemann (wohl absichtlich) auf die technischen Einwände gegen eine Verhältniswahl. Eine erneute Wahl nach dem Mehrheitsrecht hätte jedoch auch enorme politische Konsequenzen nach sich gezogen. Nicht nur weibliche Kandidaten wären wohl höchstens ausnahmsweise direkt gewählt worden, sondern auch die kleineren Parteien wären völlig marginalisiert gewesen. Und tatsächlich gewann die MSPD in mehr als zwei Dritteln aller Einzelwahlkreise eine absolute Mehrheit, sodass eine nach dem Mehrheitswahlrecht gewählte Nationalversammlung überdeutlich von den Sozialdemokraten dominiert worden wäre. Dies hätte aber nicht den Willen des Volkes widergespiegelt, sondern zu einer auch von der MSPD nicht gewollten Alleinherrschaft geführt. Um so härter wäre wiederum den Rechtsruck ab der Reichstagswahl von 1920 ausgefallen.

Auch wenn es später immer wieder Stimmen gab, die den Untergang der Weimarer Republik mit dem Verhältniswahlrecht in Verbindung zu setzen gedachten. Eine Wahl nach dem Verhältniswahlrecht hatte deutlich beruhigende Folgen für das politische Klima. Diese bedeutende Grundsatzentscheidung zwischen Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht war somit auch ein Ergebnis des "historischen" Novembers 1918.

Volltext:

In der Reichskonferenz, die am Montag im Reichskanzlerpalais stattgefunden hat, habe ich mich in einer Debattenrede auch mit den Einwänden beschäftigt, die gegen die baldige Wahl der Nationalversammlung aus technischen Gründen erhoben wurden. Es wird hauptsächlich betont, daß es nahezu unmöglich sei, Wählerlisten aufzustellen, solange nicht alle Soldaten in die Heimat zurückgekehrt seien. Die Soldaten aber dürften - was für mich selbstverständlich ist! - nicht von der Ausübung des Wahlrechts ausgeschlossen sein. Ich halte die Wahl für möglich unter Teilnahme aller Soldaten ohne daß in diesem besonderen Falle Wählerlisten aufgestellt werden müßten. Ich machte Vorschläge, die meines Erachtens einen Weg zeigen, auf den wir in kürzester Zeit zur Nationalversammlung kommen können.

Mehrfach geäußerten Wünschen entsprechend unterbreite ich hiermit meine Vorschläge einer größeren Oeffentlichkeit. Die Wahlen zur Nationalversammlung werden gleich, geheim und direkt sein, alle über 20 Jahre also Männer und Frauen können nach dem Verhältniswahlverfahren wählen. Die politischen Parteien, oder auch andere Gruppen die sich für diese besondere Wahl etwa vereinigen wollten, können LIsten ihrer Kandidaten für alle Wahlkreise des Reichs aufstellen. Es könnte für die Herausgabe der amtlich herauszugebenden Stimmzettel genügen, wenn die Parteileitung - vielleicht um die Sektiererei zu erschweren, unterstützt durch 500 oder 1000 Unterschriften - ihre Kandidatenlisten einreichten. Die Regierung müßte dann einen einheitlichen Stimmzettel für das ganze Reich drucken und verteilen lassen der etwa so aussehen würde:

 

Ich stimme für die Liste,

die ich unterstrichen habe.

1. [DNVP:] v. Westarp, v. Heydebrandt usw.

2. [USPD:] Haase-Ledebour usw.

3. [MSPD:] Ebert-Molkenbuhr usw.

4. [DDP:] Fischbeck-Gothein-Haas usw.

5. [Zentrum:] Erzberger-Fehrenbach-Gröber usw.

6. [DVP:] Stresemann-Kopsch usw.

7. usw. usw.

 

Gewiß hat eine solche Listenwahl ihre Mängel insofern, als die Wähler persönliche Wünsche zurückstellen und für alle Kandidaten stimmen müßten, die von den betreffenden Parteileitungen aufgestellt worden sind. Diese Mängel erscheinen aber gering im Vergleich zu dem Schaden, der nach meiner Ueberzeugung durch eine allzu weite Hinausschiebung der Wahlen zur Nationalversammlung für das deutsche Volk entstehen kann.

Die Berechnung der auf jede Partei entfallenden Mandate wäre verhältnismäßig leicht. Wenn z.B. auf Grund der für die Konservativen abgegebenen Stimmen 20 Mandate der Partei des Grafen Westarp zufallen würden, so hätten die auf der konservativen Liste zuerst aufgeführten 20 Kandidaten als gewählt zu gelten. Bei Todesfall oder bei Mandatsniederlegung würde zunächst der 21., dann der 22. Kandidat als Ersatzmann das freigewordene Mandat übernehmen. Nachwahlen würden sich also ohne weiteres erübrigen.

Es bleibt die Frage nach der Legitimation der Wähler zu erörtern. Ich schlage vor, daß alle Soldaten, gleichviel wo sie am Tage der Wahl sich aufhalten, sich durch ihren Militärpaß legitimieren. Der Paß müßte nach vorgenommener Wahl abgestempelt werden, damit jeder Wahlberechtigte nur einmal wählen kann. Alle zivilen Wahlberechtigten in der Heimat könnten auf Grund eines Ausweises wählen, der jedem Wahlberechtigten auf Verlangen ausgestellt werden müßte. Die Wahl ist also in diesem besonderen Falle ohne Wählerlisten möglich. Wenn bei der Stimmabgabe jeder Wähler und jede Wählering in eine Liste eingetragen werden, so könnte diese für alle späteren Wahlen als Stammliste, die entsprechend zu ergänzen wäre, benutzt werden.

Dem Einwand, daß in den besetzten Gebieten die Wahl kaum vollzogen werden könnte, kann ich erhebliches Gewicht nicht beimessen. Wenn es sich in dem besetzten Elsaß-Lothringen darum handelte, daß die Wähler für Deutschland oder für Frankreich votieren sollten, dann ließe ich den Einwand gelten. Darum aber handelt es sich bei der Wahl zur Nationalversammlung nicht. Ganz bedeutungslos scheint der Einwand zu sein, daß keine genügende Zeit der Wahlagitation bliebe, wenn die Wahlen schon, wie ich es für dringend wünschenswert halte, im Januar stattfinden sollten. Wer jetzt noch nicht weiß, ob er für Stresemann, Erzberger, von Westarp, Hasse oder Ebert stimmen soll, der wird es auch in 6 oder 8 Wochen noch nicht wissen. Es hat doch niemals in der Welt eine intensivere Wahlagitation stattgefunden als in Deutschland durch den Krieg und die Revolution!

Meine Überzeugung, daß die Errungenschaften der Revolution um so besser gesichert werden können, je schneller die Wahlen zu Nationalversammlung stattfinden, ist von Tag zu Tag gefestigt worden. Je schneller wir den Tag der Wahlen zur Nationalversammlung bekanntgeben können, um so schneller werden wir auch Brot nud Frieden haben.

Phillipp Scheidemann

Quelle:

Vorwärts Nr. 325 / Jg. 35 vom 26.11.2018

In: http://fes.imageware.de/fes/web/

 

Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Philipp_Scheidemann#/media/File:Bundesarchiv_Bild_146-1970-051-17,_Phillipp_Scheidemann.jpg

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Ein Projekt des Weimarer Republik e.V. mit freundlicher Unterstützung

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Abkürzungs- und Siglenverzeichnis der verwendeten Literatur:

ADGBAllgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
AEGAllgemeine Elektricitäts-Gesellschaft
AfA-BundGeneral Free Federation of Employees
AVUSAutomobil-Verkehrs- und Übungsstraße
BMWBayrische Motorenwerke
BRTBruttoregistertonne
BVPBayerische Volkspartei
CenterZentrumspartei
DAPDeutsche Arbeiterpartei
DDPDeutsche Demokratische Partei
DNTDeutsches Nationaltheater
DNVPDeutsch-Nationale Volkspartei
DVPDeutsche Volkspartei
KominternCommunist International
KPDKommunistische Partei Deutschlands
KVPKonservative Volkspartei
MSPDMehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands
NSNationalsozialismus
NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei; Nazipartei
NVNationalversammlung
O.C.Organization Consul
OHLOberste Heeresleitung
RMReichsmark
SASturmabteilung; Brownshirts
SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands
SSSchutzstaffel
StGBPenal Code
UfAUniversum Film Aktiengesellschaft
USPDUnabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
VKPDVereinigte Kommunistische Partei Deutschlands
ZentrumDeutsche Zentrumspartei
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(zusammengestellt von Dr. Jens Riederer und Christine Rost, bearbeitet von Stephan Zänker)