Rot-Rot bei der Arbeit: "Arbeit, Soziales und ach ja...Wolfgang Kapp"
Eine Woche ist es her, dass der Rat der Volksbeauftragten als provisorischer Kabinett an die Öffentlichkeit getreten war. Dieses Kabinetts-Protokoll bietet Einblick in die Arbeitsweise und Themenbrandbeite der Regierung. Zunächst ist offensichtlich, dass der sog. "Ebert-Groener-Pakt" keineswegs ein "Geheimpakt" Eberts mit der OHL war - wie mitunter behauptet - sondern eine institutionalisierte Grundlage hatte (Punkt 19.), die selbstverständlich auch den Kabinettsmitgliedern der USPD bekannt war. Diese Kooperation mit den alten Verwaltungsstrukturen wurde im Kabinett nicht prinzipiell umstritten, da etwa die Demobilisierung ohne die Strukturen des preußischen Kriegsministeriums nicht durchführbar gewesen wären.
Das in diesen Punkten durchaus einige Kabinett konzentiert sich denn auch auf typisch sozialdemokratische Sozialpolitik wie höhere Löhne, geplante Sozialisierungen von Betrieben, die möglichst rationale Organisation der Mangelwirtschaft, den Acht-Stunden-Tag und eine Arbeitslosenversicherung. Während der Acht-Stunden-Tag ein unmittelbare Errungenschaft der Revolution sein wird, sollte es noch knapp 10 Jahre bis zur reichsweiten Einführung einer Arbeitslosenversicherung dauern.
Als hoch problematisch wird sich jedoch die Kooperation mit weit rechts stehenden Verwaltungsbeamten wie Wolfgang Kapp erweisen (Punkt 18.), der trotz seiner hiesigen Versicherungen "keine Konterrevolution organisieren zu wollen" im März 1920 einen militärischen Putsch gegen die Reichsregierung Gustav Bauers anführen wird. Der sog. Kapp-Putsch wird die junge Republik weit stärker destabilisieren als etwa der lokal eng begrenzte Hitler-Putsch von 1923.
Volltext:
Dienstag, 19.11.1918 abends: Kabinettssitzung, Beginn: 18:15 Uhr
Anwesend alle Kabinettsmitglieder, später Schatzsekretär [Eugen] Schiffer [Nationalliberale Partei, später DDP, anm.].
1. Ein Gespräch der OHL ([Wilhelm] Groener) [Nachfolger Ludendorffs als Generalquartiermeister, Anm.] vom 18. [Nov.] abends 11 Uhr, das [Emil] Barth aufgenommen hat, wird zur Kenntnis gebracht.
2. Sozialpolitische Maßnahmen. Es wird auf Vorschlag Barths beschlossen möglichst bald, wenn angängig morgen, eine Sitzung mit den Ressorts abzuhalten, um folgende Fragen in Angriff zu nehmen:
Umstellung der Wirtschaft; Umsiedlung; Vorschläge gegen Arbeitslosigkeit; Arbeitsbeschaffung; Arbeitslosenversicherung; Fürsorge für Kriegsbeschädigte - Erhöhung ihrer Bezüge; Spruchpraxis.
3. Auf Grund einer Mitteilung [Hugo] Haases sollen der [preußische] Kriegsminister [Heinrich Schëuch, Anm.] und Joseph Koeth [Staatssekretär im Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung, Anm.] darauf aufmerksam gemacht werden, daß in Worms große Mengen Oberleder lagern, die rechtzeitig den großen Fabriken, die nicht im besetzten Gebiet liegen, zugeführt werden sollen.
4. Haase regt an, daß die Verträge des Staats mit der Kriegsindustrie über Heereslieferungen mit ihren noch immer wahnsinnigen Preisen schleunigst aufgehoben werden. Auch hierüber soll mit Koeth gesprochen werden.
5. Eine weitere Anregung Barths, daß die Festlegung aufgehoben werde, wonach in den kriegswichtigen Betrieben (Zigarrenindustrie) Arbeitszeitverkürzungen nicht aufgehoben werden dürfen, soll mit August Müller ([MSPD, Staatssekretär im] Reichswirtschaftsamt) besprochen werden.
6. Der Protokollführer [Curt Baake, MSPD später DDP - Leiter der Reichskanzlei, Anm.] weist auf eine Mitteilung der Deutschen Bank hin, wonach der sofortigen Durchführung des Achtstundentages erhebliche Schwierigkeiten selbst in ganz modernen Betrieben, wie den Stickstoffwerken, entgegenstehen. Dort müsse ununterbrochen Betrieb sein, weil die Karbidschlacken sonst erkalten. Die Ansiedlung der bei Einlegung einer weiteren Arbeitsschicht erforderlichen Arbeiter bedingt aber wieder Wohnungsbauten. Die Angelegenheit wird dem Reichswirtschaftsamt zugewiesen, das in Gemeinschaft mit den Gewerkschaften prüfen soll.
[...]
9. Die [als zu niedrig empfundene, Anm.] Erhöhung der Soldatenlöhnung hat in allen Kasernen Aufregung hervorgerufen. Es wird beschlossen, daß Ausführungsbestimmungen zu diesem Erlaß durch das Kriegsministerium in der Presse noch erfolgen werden.
10. Pressechef. Es wird beschlossen, daß [Otto] Landsberg und [Philipp] Scheidemann die Ressorts tauschen. Scheidemann erhält die Presse [und Landsberg die Finanzen, Anm.]. Die Vertretung des Kabinetts vor der Pressekonferenz wird Herrn Direktor [Walter] Simons [später Reichsaußenminister, Anm.] und Herrn [Ulrich] Rauscher [MSPD, später Gesandter in Polen, Anm.] unter Verantwortung von Scheidemann übertragen.
11. Dem Goethebund war von der vorhergehenden Reichsleitung ein Zuschuß zu den frohen Abenden von 100.000 Mark zur Verfügung gestellt. Hiervon hat er 30.000 Mark verbraucht. Das Kabinett beschließt, den Rest von 70.000 Mark dem Goethebund nicht auszuzahlen.
12. Lange Debatte über Proklamation, die Sozialisierung der reifen Betriebe ankündigt. Staatssekretär Schiffer erhebt Einwände. Es wird beschlossen, daß ein Gesetzesentwurf Schiffers morgen eingereicht und dann die Angelegenheit durch Beschlußfassung erledigt wird. In Übereinstimmung mit Schiffer wird festgestellt, daß die Gutachterkommission gemeinsam von dem Reichsschatzamt einzuberufen ist und daß auch Dernburg in diese Kommission berufen werden soll.
13. Fall Somary-Hoover. Es wird beschlossen. [Felix] Somary [österreichischer Ökonom, Anm.] soll nicht mit [Herbert] Hoover [als Leiter des US-Ernährungsamtes zuständig für Lebensmittellieferungen nach Europa, Anm.] verhandeln. Dem Reichsernähungsamtes ist Mitteilung zu machen, wenn Hoover überhaupt nicht in Europa ist, so ist der Auftrag Somary erledigt. Ist Hoover aber doch in Serbien, hat Somary lediglich den Auftrag, Hoover zur Stelle zu schaffen.
14. Barth teilt mit, daß die Arbeiter des Betriebsamts in Spandau eine Entlohnung analog der Berliner verlangen. So wird beschlossen: die Anregung soll dem Kriegsminister mitgeteilt werden.
15. Ein umfangreicher Vorschlag des Vollzugsrats über Wesen und Aufgaben der Arbeiter- und Soldatenräte soll das Kabinett am 20. d. Mts. 5 Uhr nachmittags beschäftigen. Von dem Vorschlag sollen bis zu dieser Zeit sieben Durchschläge hergestellt werden.
16. Die Waffenstillstandskommission. [Matthias] Erzberger erhält die Vollmacht, Bekanntmachungen im Rahme ihrer Befugnisse selbst zu erlassen.
17. Will die Waffenstillstandskommission rasche Entscheidung bewirken, so wird sie ihre Vorschläge gleichzeitig dem Kriegsminister einreichen und dem Kabinett Mitteilung machen. Das Kabinett ist damit einverstanden.
18. Es wird mitgeteilt, daß die Organisation "Heimatschutz im Osten" notwendig sei, wenn die Lebensmittelvorräte in Preußen gesichert werden sollen. Erzberger und [Wolfgang] Kapp [Deutsche Vaterlandspartei, Anm.] geben alle Garantie, daß hier keine Konterrevolution organisiert wird. Der Organisation wird zugestimmt.
19. Es wird beschlossen, als Vertreter der Regierung bei der OHL Reichstagsabgeordneten [Carl] Giebel [MdR - MSPD, Anm.] zu beauftragen. [Paul] Lensch [MdR - MSPD, Anm.] soll dableiben, aber nicht als Vertreter des Kabinetts.
20. Gesprochen wird über die Notlage der 350.000 Österreicher, die hier unverpflegt und nicht unterstützt herumliegen [bezieht sich auf im Deutschen Reich gestrandete Soldaten des KuK-Heeres, Anm.].
Beschlüsse werden nicht gefaßt. Schluß der Sitzung 8:30 Uhr.
Quelle:
Bundesarchiv Berlin R 43/I, Nr. 1324.
In: Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Erste Reihe, Band 6/1, Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19, eingel. Erich Matthias, bear. Susanne Miller u. Heinrich Potthoff, Düsseldorf 1969, S. 105-108.