Rot-Rot übernimmt die Regierung: "Baldige Wahlen und soziale Reformen"
Der Rat der Volksbeauftragten wurde aus je drei Mitgliedern von MSPD und USPD gebildet, wobei der Vorsitz bei Friedrich Ebert (MSPD) und Hugo Haase (USPD) lag. De-jure eine revolutionäre Regierung für das ganze Reich, die alsbald freie Wahlen und soziale Reformen versprach, war der Rat de-facto das Ergebnis eines vom preußischen Militär unterstützen Putsches gegen das bisherige Staatsoberhaupt Kaiser Wilhelm II. und den Reichskanzler Max von Baden. Auch in Preußen wurde ein entsprechendes 'rot-rotes' Revolutionskabinett etabliert, wobei jedes Ministerium mit einem MSPD- und einem USPD-Vertreter besetzt war. Hier lag der Vorsitz bei Paul Hirsch (MSPD) und Heinrich Ströbel (USPD).
Drei Tage nach der Abdankung des Kaisers schafft der Rat der Volksbeauftragte mit diesem Aufruf Fakten: Er garantiert demokratische Grundfreiheiten und ergreift sozialpolitische Maßnahmen. Vor allem aber: Er führt das allgemeine und gleiche Wahlrecht überall im Reich ein – auch für Frauen.
Volltext:
An das deutsche Volk!
Die aus der Revolution hervorgegangene Regierung, deren politische Leitung rein sozialistisch ist, setzt sich die Aufgabe, das sozialistische Programm zu verwirklichen. Sie verkündet schon jetzt mit Gesetzeskraft folgendes:
- Der Belagerungszustand wird aufgehoben.
- Das Vereins- und Versammlungsrecht unterliegt keiner Beschränkung, auch nicht für Beamte und Staatsarbeiter.
- Eine Zensur findet nicht statt. Die Theaterzensur wird aufgehoben.
- Meinungsäußerung in Wort und Schrift ist frei.
- Die Freiheit der Religionsausübung wird gewährleistet. Niemand darf zu einer religiösen Handlung gezwungen werden.
- Für alle politischen Straftaten wird Amnestie gewährt. Die wegen solcher Straftaten anhängigen Verfahren werden niedergeschlagen.
- Das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst wird aufgehoben, mit Ausnahme der sich auf die Schlichtung von Streitigkeiten beziehenden Bestimmungen.
- Die Gesindeordnungen werden außer Kraft gesetzt, ebenso die Ausnahmegesetze gegen die Landarbeiter.
- Die bei Beginn des Krieges aufgehobenen Arbeiterschutzbestimmungen werden hiermit wieder in Kraft gesetzt.
Weitere sozialpolitische Verordnungen werden binnen kurzem veröffentlicht werden. Spätestens zum 1. Januar 1919 wird der achtstündige Maximalarbeitstag in Kraft treten. Die Regierung wird alles tun, um für ausreichende Arbeitsgelegenheiten zu sorgen. Eine Verordnung über die Unterstützung von Erwerbslosen ist fertiggestellt. Sie verteilt die Lasten auf Reich, Staat und Gemeinde.
Auf dem Gebiete der Krankenversicherung wird die Versicherungspflicht über die bisherige Grenze von 2500 Mark ausgedehnt werden.
Die Wohnungsnot wird durch Bereitstellung von Wohnungen bekämpft werden.
Auf die Sicherung einer geregelten Volksernährung wird hingearbeitet werden.
Die Regierung wird die geordnete Produktion aufrechterhalten, das Eigentum gegen Eingriffe Privater sowie die Freiheit und Sicherheit der Person schützen.
Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystem für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.
Auch für die Konstituierende Versammlung, über die nähere Bestimmung noch erfolgen wird, gilt dieses Wahlrecht.
Berlin, den 12. November 1918.
[Friedrich] Ebert [MSPD,] [Hugo] Haase [USPD,] [Philipp] Scheidemann [MSPD,] [Otto] Landsberg [MSPD,] [Wilhelm] Dittmann [USPD,] [Emil] Barth [USPD]
Quelle:
Original:
Reichs-Gesetzblatt, Jg. 1918, Nr. 153, S. 1303-1304
Online:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Deutsches_Reichsgesetzblatt_1918_153_1303.png