Thomas Mann: "Es geht um die Freiheit der Deutschen"
Thomas Mann berichtet von einem Gespräch mit Leo Krell, der über die “nationale Verteidigung“ spekuliert. Mann macht sich seinerseits Gedanken über den weiteren Kriegsverlauf, die aus seiner Sicht katastrophale Entwicklung in Österreich und kommentiert die Proklamation des Kaisers mit einem Wort: Opportunismus!
Volltext:
Sonnabend den 2. XI. 18.
Begann vormittags einen Prosa-Entwurf des Gedichtes » An mein jüngstes Kind« zu schreiben. – Per Tram zur Stadt und zu Jaffe, der sich andachtsvoll über den Absatz der Betr. äußerte. Kaufte Hamsuns neuen Roman » Segen der Erde« u. bestellte eine lesbare Ausgabe der » Luise«. – Traf Krell, der zu wissen meinte, daß, wenn bis zur nächsten Woche der Waffenstillstand nicht angenommen sei, zur »nationalen Verteidigung« aufgerufen werden würde. – Zu Fuß nach Hause. Ein Heft der Leipziger » Illustrierten Zeitung« kam, Bilder u. Aufsätze enthaltend. Das Blatt ist allzu offenbar der Schwerindustrie unterthan, u. die Beiträge wirken befremdend, indem sie den Verlust des Krieges in Conditionalform behandeln. – Beim Thee Gesellschaft des Kindchens. In der Zeitung viel über die bevorstehenden Bedingungen, die vom Wunsche nach Fortsetzung des Krieges oder, militärisch ganz unnötiger, Demütigung Deutschlands diktiert scheinen. Jedenfalls spricht ein Sinn für das harte Diktat u. die militaristische Gewalt daraus, den man so veredelten Gemeinschaften nicht zutrauen sollte. Immerhin fürchtet man in Frankreich englische Neuwahlen, wie es scheint, weil Neuwahlen in Frankreich den Fall Clemenceaus zur Folge haben würden. Die Waffenst.-Bedingungen für die Türkei sind bereits amtlich mitgeteilt. Sie sind ziemlich radikal, und die für Österreich werden nicht anders ausfallen. Zuletzt, wenn die bayerische Grenze bedroht ist, wird Deutschland die seinen erfahren: d. h. wenn der Rhein keinen Schutz mehr bietet. Freilich, wozu dann noch scharfe Waffenstillstandsbedingungen? Wahrscheinlich zur Gewöhnung an den Geist des Friedens von Brüssel. – Brief von Dr. Else Schöll über die Betrachtungen. Anläßlich des Buches langes, langes Schreiben eines jungen Kriegsleutnants aus Posen: ein ziemlich wirres und grüblerisches Gedankengedränge über das Schicksal der Kriegsjugend. – In Wien droht die Revolution in Anarchie und Bolschiwismus überzugehen. »Rote Garde« unter einem geisteskrank gewesenen galizischen Juden. Die Ermordung des Grafen Tisza in Budapest hat sehr tragischen und, was den Grafen u. seine Damen betrifft, sehr noblen Charakter. Er war der Mann des magyarischen Herrentums. Der Zerfall Österreichs schreitet rapide fort. Wollte Deutschland sich nur würdig halten! Aber Scheidemann soll die Revolution auch bei uns für unausbleiblich halten. Vielleicht aus Furcht davor das Dringen der Presse auf Abdankung des Kaisers. Er ist wahrhaftig zu jeder Anpassung willig. Er soll gesagt haben: »Das deutsche Volk soll das freieste der Welt werden«.
Quelle:
de Mendelssohn, Peter (Hrsg.), Thomas Mann. Tagebücher 1918-1921, Frankfurt am Main 1979, S. 52 f.