Wolfgang Heine: "Ich habe die Wahl: Landesminister, Reichsminister oder Ministerpräsident"
Die Sozialdemokraten standen im Herbst 1918 vor einem massiven Personalproblem. Zu wenige Genossen waren juristisch oder gar administrativ vorgebildet und so mussten die Wenigen, auf die dies zutraf, teils mehrere, selbst höchste Ämter gleichzeitig übernehmen. Als langjähriger Rechtsanwalt des kurzzeitigen "Reichskanzlers" und jetzigem Volksbeauftragten Ebert war Wolfgang Heine dessen erste Wahl für das Amt des Staatssekretärs im Reichsamt des Innern (später "Reichsinnenministerium"), welchem vor allem die Aufgabe zukam einen Entwurf für die Reichsverfassung auszuarbeiten.
Heine verpasste Eberts Ruf um wenige Stunden, da er am Morgen des 12. November nach Dessau abgereist war, um in Anhalt das Amt des Vorsitzenden des Staatsrates anzutreten (was er erst dort erfuhr). Hieran anschließend wurde Heine wenig später zum ersten Ministerpräsidenten des Freistaats Anhalt gewählt. Seine Freude über dieses Amt war nicht groß. Nun musste er zwischen Dessau und Berlin pendeln, wo er (zusammen mit Kurt Rosenfeld - USPD) das Amt des preußischen Justizministers ausübte.
In diesen Fragmenten seiner Erinnerungen schildert Heine die Faktoren, welche die schwerwiegenden Personalentscheidungen beeinflussten. Sein Amt als Ministerpräsident gab es bereits im Juli 1919 ab.
Volltext:
Am Dienstag den 12. November vormittags wurde ich von Dessau [Heines Wahlkreis, Anm.] aus angerufen. Der Parteisekretär [der MSPD] Lincke und der Redakteur des Volksblattes [Richard] Paulick baten mich, sofort hinzukommen, "um Ordnung zu schaffen". Was das bedeutete, sagten sie nicht. Volker [Heine], der neben meinem Telefon stand, sagte: Vater, Du wirst doch nicht dumm sein und Dich dort von den Spartakisten an die Wand stellen lassen? - Ich erwiderte ihm, dass, wenn eine solche Gefahr bestunde, an die ich übrigens nicht glaubte, ich erst recht hinfahren müsste. Darauf Volker: "Dann fahre ich zu deinem Schutze mit." [Bd. 4, S. 219]
[...]
Es entsprach durchaus nicht meinen Wünschen, ein Amt zu übernehmen, namentlich eins, das mich auf längere Zeit von meinem Beruf in Berlin fernhielte. Aber noch grösser war mein Bedenken dagegen, dass gerade ich die Präsidentschaft des Staatsrats übernehmen sollte. Ich sagte den Genossen, dass seit beinahe 30 Jahren [Heinrich] Peus die Seele der Agitation in Anhalt wäre, dass eigentlich er die ganze dortige Bewegung erweckt und ihr einen eigenartigen Charakter gegeben hätte, und dass deshalb er zum ersten Präsidenten des Freistaats Anhalt berufen wäre.
Hier stiess ich nun auf einen merkwürdigen Widerstand. Die Parteigenossen liessen dem Idealismus von Peus und seinen Verdiensten als Redakteur alle Gerechtigkeit widerfahren, aber sie hielten ihn bei seinem Sonderlingswesen zu jeder praktischen politischen Arbeit, namentlich zur Leitung einer Koalitionsregierung [mit der DDP; die USPD existierte in Anhalt praktisch nicht, Anm.] für unmöglich. Da sie sich darauf beriefen, ihn in der praktischen Arbeit besser zu kennen, als ich, mir selbst aber seine Schrullenhaftigkeit und seine Fähigkeit, beim allerbesten Willen eine Sache zu verderben, nicht unbekannt waren, konnte ich wenig dagegen sagen. Ich riet dann, sich einen anderen, in den Anhalter Angelegenheiten erfahrenen Genossen für das Amt zu auszusuchen. Darüber grosse Niedergeschlagenheit. Paulick erklärte schliesslich: wir haben den bürgerlichen Parteien und der alten Regierung gegenüber die Verpflichtung übernommen, Sie als Präsident zu stellen. Wenn Sie nein sagen, bleibt uns nichts anderes übrig, als auszuwandern, denn wir, aber auch die Partei sind politisch völlig diskreditiert.
Obwohl ich das für stark übertrieben hielt, konnte ich doch eine moralische Schwächung der Sozialdemokratie natürlich nicht verantworten; ich erklärte mich also bereit, auf kurze Zeit die Führung zu übernehmen [...] [S. 220f.]
[...]
Noch an dem Tage, an dem ich nach Dessau reiste, hat der Volksbeauftragte Ebert in meinem Büro angerufen und mich zu sich gebeten, um mir das Reichsamt des Innern zu übertragen. Ich erfuhr dies erst brieflich von Berlin aus. Leider hatte man Ebert nicht darauf verwiesen, dass ich in Dessau sehr leicht [telefonisch, Anm.] erreichbar wäre. Die Volksbeauftragten nahmen dann den demokratischen Professor [Hugo] Preuss für diese Stelle. Preuss war Staatsrechtslehrer und Fachmann auf diesem Gebiet. Aber er war ein unpraktischer Doktrinär und hat bei besten Absichten und anerkennenswertem Fleiss auf die Beratungen der Verfassung teilweise einen sehr ungünstigen Einfluss ausgeübt, der heute noch nachwirkt. [S. 224]
[...]
Es hätte verlockend erscheinen können [in Dessau, Anm.], in einem mir vertraut gewordenen engerem Gebiet mit erprobten Mitarbeitern Nützliches zu schaffen […]. Wenn ich [aber] in Berlin lebte, konnte ich wenigstens formell meine Zulassung als Rechtsanwalt aufrecht erhalten. Darauf legte ich den grössten Wert, denn ich sah dem Tag voraus, ja ich ersehnte ihn, wo ich wieder ein als freier Mann ohne Rücksicht auf Partei- und Beamtenstellung mich meinem eigentlichen Beruf würde widmen können. […] Präsident in Anhalt sein konnten auch andere; mein eigenes Dasein dem zu opfern, hielt ich mich nicht für verpflichtet.“ [S. 271f.]
Quelle:
Bundesarchiv Berlin, Nachlass Wolfgang Heine, N2111/484.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Heine#/media/File:Hermann_Struck_Grafik_JMBerlin_GDR_77_13_0.jpg