Berliner Börsen-Zeitung (BBZ): "Eine neue Ära bricht an!"
Die nationalliberale Berliner Börsen-Zeitung reagiert euphorisch auf den Regierungsantritt des Prinzen Max. Eine "neue Ära" beginne der Demokratie habe begonnen. Die Parlamentarisierung des Reiches sei unumkehrbar und werde sich gegen alle noch auftretenden Widerstände zweifellos durchsetzen. Das Blatt begrüßt neben der glaubhaften Haltung des neuen Kanzlers die überparteiliche Zusammensetzung des Kabinetts. Parteilose, Sozialdemokraten, Zentrumsmänner und Liberale seien hierin als jeweilige Experten und wahre Persönlichkeiten vereint.
Besonders lobende Worte findet die BBZ für Matthias Erzberger, der als späterer Finanzminister und Unterzeichner des Waffenstillstands von Compiègne einige Bedeutung erlangen wird, und für Wilhelm Solf. Der ehemalige Kolonialbeamte und Diplomat sei der richtige Mann zur Umsetzung der nun notwendigen Friedenspolitik.
Volltext:
Die Rede, die Reichskanzler Prinz Max von Baden gestern im Reichstage gehalten hat, war in verschiedenster Hinsicht im höchsten Maße bedeutungsvoll. An anderer Stelle ist die an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von der Reichsregierung gerichtete Note gewürdigt worden. Sie wird selbstverständlich zunächst im Mittelpunkte des Interesses bleiben. Ungemein bedeutsam aber waren auch die Ausführungen, die der Prinz an die Spitze seiner Rede stellte. Der neue Reichskanzler sprach deutlich und klar, und man hatte den Eindruck, daß es ihm von Herzen kam, was er sagte. Er legte das Bekenntnis zum parlamentarischen Regierungssystem im Deutschen Reiche ab. Er sprach als der erste Reichskanzler zu einer Volksvertretung, mit deren Vertrauen er und seine Regierung steht und fällt. Er betonte auch ausdrücklich, daß das Verhältnis zwischen dem Kanzler und seinen Mitarbeitern ein anderes geworden sei, wie das dem politischen Charakter, den jetzt die Staatssekretäre erhalten haben, entspricht. Eine neue Aera hat ihren Einzug in das Deutsche Reich gehalten. Das Volk regiert sich selbst. Und mit Recht hat der Prinz Max von Baden hervorgehoben, daß er und seine Regierung nur die Verkörperung des Willens der Mehrheit des Deutschen Reichstages und damit der deutschen Nation sind. Seit Jahrzehnten sind im deutschen Reichstage so klare und eindeutige Worte wie die, die gestern der Reichskanzler sprach, nicht gehört worden. Wir finden die Frage überflüssig und müßig, ob sich das neue System bewähren wird. In der neuen Regierungsart liegt die Wahrheit und damit das Vertrauen. Sie wird sich durchsetzen und fest verankern in unserm Volke. Sie ist für uns, wie der Reichskanzler klar hervorhob, nunmehr eine bleibende Institution geworden, untrennbar verbunden mit der Existenz unseres Staates.
Der Reichskanzler legte Wert auf die Feststellung, daß er für eine vollständige Homogenität seines Kabinetts Sorge getragen habe, und daß er niemanden in daselbe aufgenommen habe, der sich durch frühere entgegengesetzte Meinungen als ein Hindernis für die Durchführung seines Programms erweisen könne. Das Programm selbst umschrieb der Reichskanzler ungefähr mit den gleichen Worten, die sich auch mit dem von uns veröffentlichten Programm der Mehrheitsparteien finden. Die neuen Männer der Reichsregierung sind dem Reichstag alte Bekannte. Endlich haben nun auch führende Männer des Parlaments ihren Einzug in die Regierung gehalten. Da es fest umrissene politische Persönlichkeiten sind, brauchen wir uns über sie kaum weiter zu äußern. Die Herren [Adolf] Gröber [Zentrum, ohne Geschäftsbereich, Anm.] und [Philipp] Scheidemann [MSPD, ohne Geschäftsbereich, Anm.] kennt man ebenso gut wie ihre politischen Anschauungen. Auch Herrn [Gustav] Bauers [MSPD, Arbeitsminister, Anm.] ausgezeichnete Sachkenntnis in allen Fragen der Sozialpolitik ist über jeden Zweifel erhaben. Wir begrüßen insbesondere auch die Ernennung des Herrn Abgeordneten [Matthias] Erzberger [Zentrum, Anm.] zum Staatssekretär ohne Portefeuille. Noch bis in die letzten Stunden war es fraglich, ob Herr Erzberger Mitglied der neuen Regierung werden würde. Bei der klaren Stellungnahme, die Herr Erzberger während des ganzen Krieges in allen entscheidenden Fragen eingenommen hat, wäre es ein Fehler gewesen, wenn er jetzt nicht auch zur Exekutive berufen worden wäre. Gewiß hat Herr Erzberger viele Feinde in unserem Vaterlande. Und die Tatsache, daß er mit seiner Politik Recht behalten hat, wird dieselben zunächst zum Schweigen bringen, kaum aber ihm gegenüber wohlwollender stimmen. Wir haben aber aus sehr wohlerwogenen Gründen keine Koalitionsregierung, sondern eine Mehrheitsregierung bekommen. Und in eine solche gehört der Mann hinein, der am unerschrockensten von seiner großen Partei für die innerpolitischen und außenpolitischen Ziele eingetreten ist, die die jetzige Regierung zu ihren eigenen gemacht hat.
Allen denen, die die Spalten unseres Blattes seit Jahren vertretene Politik verfolgt haben, wird es ohne weiteres selbstverständlich erscheinen, daß die neue Reichsregierung auch auf unsere Unterstützung zählen kann. Wir billigen ihre Ziele und ihre Zusammensetzung. Sehr erleichtert wird uns diese Stellungsnahme durch die noch in letzter Stunde erfolgte Ernennung des Herrn Dr. [Wilhelm] Solf [parteilos, später DDP, Anm.] zum Staatssekretär des Auswärtigen Amts. Wir haben Herrn [Paul] von Hintzes persönlichen Eigenschaften stets alle Gerechtigkeit widerfahren lassen, ohne daß wir in der Lage waren, die von ihm während seiner kurzen Amtszeit geführte Politik irgendwie billigen zu können. Diese Politik stand leider in keiner Weise im Einklang mit der tatsächlichen politischen Lage, in der wir uns befanden. Ausschlaggebend aber für den Rücktritt des Herrn von Hintze mußte die Erwägung sein, daßß seine Persönlichkeit nicht geeignet war, die Friedenspolitik der Reichsregierung zu unterstützen. Wir wollem ihm hieraus keinen Vorwurf machen, glauben vielmehr, daß Herr von Hintze selbst ein viel zu kluger Herr ist, um nicht die Richtigkeit dieser Tatsache einzusehen. Unter allen, die für seine Nachfolge in Frage kamen, ist uns stets Dr. Solf als die geeigneteste Persönlichkeit erschienen, Herr Solf hat seine Ansichten über die auswärtige Politik, die sich wohl von den unsrigen nicht allzu sehr entfernen, während des ganzen Krieges in kluger und beharrlicher Weise aufrechterhalten, auch zu Zeiten, wo das für einen Politiker, insbesondere für einen aktiven Staatssekretär, nicht nur sehr undankbar, sondern beinahe gefährlich war. Im Auslande ist man über unsere inneren Verhältnisse sehr viel besser unterrichtet, als man gewöhnlich bei uns glaubt. Es ist daher anzunehmen, und auswärtige Zeitungesnachrichten bestätigen das, daß man dort sehr wohl über Herrn Dr. Solfs politische Anschauungen Bescheid weiß. Das aber kann für die Reichspolitik nur von Vorteil sein. Die Weltkenntnis, die Herr Dr. Solf sich in den langen Jahren seiner Auslandstätigkeit hat erwerben können, und die Gewandtheit der Rede, die er noch bei seinen letzten vielbeachteten Ausführungen über die Friedensmöglichkeiten erwiesen hat, werden für ihn auch auf dem neuen Posten eine wertvolle Unterstützung sein. Die Aufgabe, die seiner sowohl bei der Führung der auswärtigen Politik, wie bei der Reorganisation des Auswärtigen Amtes wartet, ist eine große.
Quelle:
Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 469 / Jg, 64 vom 6.10.18
Bild 1:
https://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Erzberger#/media/File:Gedenkstein_Matthias_Erzberger.jpg
Bild 2:
https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Solf#/media/File:Bundesarchiv_Bild_183-R73059,_Wilhelm_Solf.jpg