BTB: "Deutsch-Österreich bittet um Frieden und fordert Volksabstimmungen in allen deutschen Grenzgebieten"
Das liberale Berliner Tageblatt (BTB) berichtet in seiner Morgenausgabe ausführlich über die Konstituierung der Nationalversammlung von Deutsch-Österreich. Zu den ersten Beschlüssen aus Wien gehöre ein Gesuchen um Friedensverhandlungen an die Alliierten und der gleichzeitige Anspruch auf alle deutschsprachigen Gebiete der früheren KuK-Monarchie. Man solle den Völkern die Möglichkeit bieten, ihre Wünsche in Volksabstimmungen über die staatliche Zugehörigkeit in friedlicher Weise auszudrücken, um "Verzweiflung" und "Fremdherrschaft" zu verhindern.
Volltext:
Der Vollzugsausschuß der deutsch-österreichischen Nationalversammlung beschloß, die an [den amerikanischen] Präsident Wilson zu richtende Note der morgigen Vollversammlung zur Beschlußfassung vorzulegen. Die Note macht zunächst von der Konstituierung des deutsch-österreichischen Staates Mitteilung, der die Gebietshoheit über das Gebiet des bisherigen Oesterreichs beansprucht, in denen die [D]eutsche[n] die Mehrheit der Bevölkerung bilde[n]. Der deutsch-oesterreichische Staat verlangt, daß seine Vertreter als Vertreter eines selbstständigen Staates zu den Friedensverhandlungen zugelassen werden und mit den Vertretern der anderen Nationen über die Bedingungen des Friedens verhandeln. Er bittet den Präsidenten, ihm Gelegenheit zu bieten, unverzüglich in gerechte Verhandlungen mit den Vertretern aller kriegführenden Mächte zu treten. Der Vollzugsausschuß verpflichtet sich zu Annahme folgender Grundsätz:
Vorbehaltlose Annahme der in den Botschaften Wilsons niedergelegten Grundsätze;
Anerkennung der tschecho-slowakischen und südslawischen Nationen als vollkommen unabhängige Staaten und Regelung der deutsch-österreichischen Beziehungen mit diesen durch freie Vereinbarung.
Eventuelle Streitfragen sind der Entscheidung des Schiedsgerichts zu unterwerfen. Die Note erörtert die Frage der deutschen Gebiete der Sudetenländer und erklärt, es sei selbstverständlich, daß der neue deutsch-österreichische Staat auch die deutschen Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens mit 3 1/2 Millionen Deutschen beanspruche. Der Vollzugsausschuß sei überzeugt, daß Wilson es ablehnen werde, 3 1/2 Millionen Deutsche gegen ihren Willen dem tschechischen Staat zu unterwerfen un zu einem Verzweiflungskampf gegen die ihnen drohende Fremdherrschaft zu zwingen. Sie fordern, daß [...] [die Deutschen] ihre künftige staatliche Zugehörigkeit in Gemeinschaft mit [Deutsch-Österreich] frei bestimmen sollen. Sollte sich eine vertragliche Festsetzung der Grenzen als unmöglich erweisen, so soll die Bevölkerung der umstrittenen Gebiete selbst durch allgemeine Volksabstimmung entscheiden, zu welchem Staate sie gehören will. In analoger Weise wäre diese Grundlinie auch auf die deutschen Siedlungsgebiete im Süden und auf die Regelung der staatlichen Grenze gegen Italien und den südslawischen Staat anzuwenden. Die Note schließt mit einem Appell an den [amerikanischen] Präsidenten, seine Autorität dür das Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation einzusetzen, sowie dafür, daß sofortige allgemeine Waffenruhe an der Front eintritt.
Quelle:
BTB Nr. 555 / Jg. 47 (Morgen-Ausgabe), S. 1
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/kalender/auswahl/date/1918-10-30/27646518/
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Tageblatt#/media/File:Plakat_1899.jpg