Conrad Schmidt: "Die Menschen wollen sich, auch selbst zu ihrem Glücke, durch keine fremde Willkür zwingen lassen"
Die Sozialistischen Monatshefte gelten als das wichtigste Organ des innerparteilichen Revisionismus in der SPD und zwischenzeitlichen MSPD. Hauptziel der Revisionisten und Revisionistinnen, die ansonsten eine sehr heterogene Strömung bildeten, war die Überarbeitung des als dogmatisch empfundenen sozialdemokratischen Parteiprogramms. Zu den regelmäßig Beitragenden zählten u.a. Eduard Bernstein, Wolfgang Heine, Eduard David, Kurt Eisner, Wally Zepler und Dora Landé. Manche Revisionisten wie Bernstein und Eisner schloßen sich der USPD an. Andere wie Heine und David gehörten zu den führenden Köpfen des rechten MSPD-Flügels.
Der Ökonom Conrad Schmidt lässt sich wiederum keinen Flügel definitiv zuordnen. Er verblieb jedoch in der MSPD. Im hiesigen Text setzt sich Schmidt mit den 'russischen Verhältnissen' auseinander und bestreitet insbesondere, dass sich die Bolschewiki mit ihrem Verständnis von der "Diktatur des Proletariats" im Einklang mit der Marxschen Lehre befänden. Nur eine auf den Freiheits- und Gleichheitsrechten fußende Demokratie könne den Sozialismus bringen. Schmidt offenbart hier ein immenses Grundvertrauen in die Kraft des rationalen Argumentes.
Volltext:
Zu der sinnlosen Vernichtung von Menschenleben und Gütern, den physischen und seelischen Leiden, wie den zahllosen, von keiner Kriminalstatistik mehr erfaßbaren Zeichen moralischer Verwilderung gesellt sich, als eine der für diesen Weltkrieg charakteristischen Erscheinungen, eine Willkür des Denkens, die auch vor den flagrantesten Widersprüchen nicht zurückscheut. Die selben Maximen rücksichtloser Gewaltpolitik, die man beim Gegner (bei sich selbst natürlich in gutem Recht) angreift und als den Ausdruck von Gesinnungen denunziert, mit denen, wenn die Völker zum Frieden kommen sollen, radikal gebrochen werden muß, gelten einem großen Teil dieser Entrüsteten, wenn von der eigenen Regierung praktiziert, für ein selbstverständliches und unantastbares Notrecht. Der heilige Egoismus der Nation, das von den naiven italienischen Chauvinisten geprägte Schlagwort, spiegelt in seiner burlesken Verstiegenheit die geistige Verfassung wider, die für die Denkart der Chauvinisten aller Länder typisch ist. Ihnen dünkt es geradezu bereits ein Frevel solche Inspirationen des Gefühls vor irgendeine logisch-kritische Instanz zu ziehen. Schon die Gemeinsamkeit der menschlichen Vernunfslage, die sich im Reich der Logik kundtut, macht diese des Internationalismus verdächtig.
Ein ähnlich widerspruchsvolles Verhalten zur Gewaltpolitik, nicht im Verhältnis der Völker gegen einander, sondern was die Regelung der bürgerlichen Rechte und sozialen Ordnung im Inland anlangt, stellt sich, wie man im übrigen von dem Programm der Bolschewiki denken mag, in deren diktatorischer Praxis und Doktrin dar. Seitdem jene ersten Träume des jungen Sozialismus verweht sind; durch allerhand vorbildliche Organisationsexperimente im kleinen der gesellschaftlichen Entwicklung eine sozialistische Zielrichtung zu geben, und die Erkenntnis der Arbeiterkreise allgemein geworden ist, daß ohne fortschreitende Eroberung der politischen Macht die Begründung einer bessern und vernünftigern Gesellschaftsordnung unmöglich ist, galt es zugleich als Selbstverständlichkeit, daß die politische Regierungsform, die die Arbeiterschaft als fundamentale Vorbedingung zu verlangen und, wo sie noch nicht hergestellt ist, zu erkämpfen hat, eine, die unbeschränkte Rede-, Preß- und Koalitionsfreiheit und die durchgängige politische Gleichberechtigung aller Bürger einschließende Demokratie ist. Erst in einer wahrhaft demokratischen Verfassung sind die Kampfbedingungen für die Parteien gleichgestellt, sind die Chancen gegeben, daß das gemeinsame Interesse der großen arbeitenden Majorität im Wettstreit mit anderen Programmen schließlich mit einer gewissen innern Notwendigkeit zum politisch organisierten Mehrheitswillen und damit zur entscheidenden Instanz der Gesetzgebung und eines rationellen Umbaus der Gesellschaft wird. [...] Darauf baut sich die Taktik der ganzen modernen Arbeiterbewegung auf.
Dies ist natürlich auch der Marxsche Standpunkt, wie er allein dem Sinn und dem Gesamtzusammenhang seiner entwicklungsgeschichtlichen ökonomischen Auffassung entspricht. Er wie Engels haben das organische Gebundensein sozialer Fortschritte an die jeweils gegebenen sozialen und politischen Verhältnisse und an den in demokratischer Entwicklung jeweils erreichten Reifegrad der Arbeiterklasse selber aufs nachdrücklichste stets betont. Gewiß, das Naturell der beiden großen sozialistischen Vorkämpfer war selbst ein stürmisch revolutionäres, von unerschütterlicher Zuversicht auf ein rapides Tempo der vorwärts treibenden Entwicklung getragen. Das verstärkte die Zündkraft ihrer Propaganda. Aber dieser Elan, der so oft das Ferne bereits in greifbarster Nähe zu sehen meinte, verband sich bei ihnen mit einer Selbstkritik, einem Zurückgehen auf die Wirklichkeit der Dinge, die ihrer Grundanschauung im Gegensatz zu allen sonstigen Spielarten des Sozialismus den Stempel eines großzügigen, in dem Gefüge der gesellschaftlichen Zusammenhänge selbst wurzelnden Realismus gibt. [...] Einen Kultus der Revolution mitzumachen, der Wunderdinge von Handstreichen der Gewalt erwartet, haben sich die beiden (jedenfalls in den Zeiten nach dem Kommunistischen Manifest) aufs entschiedenste verweigert. Sie sahen darin eine der gefährlichsten politischen Selbsttäuschungen. [...] Das von Marx in seinem Schreiben zum Gothaer Programm gebrauchte Wort von der >Diktatur des Proletariats<, das von den Bolschewiki zum Zwecke einer Rechtfertigung ihrer Politik ausgespielt wurde, hat einen völlig anderen Sinn als den, den jene ihm geben. Marx denkt dabei offenbar nur an den treibenden Druck, den die Arbeiterklasse, wenn sie einmal die ausschlaggebende politische Gewalt geworden ist, zwecks rascher und energischer Durchführung ihres sozialen und politischen Programms auszuüben entschlossen sein wird. An eine Suspension der demokratischen Freiheit und Gleichheit im angeblichen Interesse der revolutionären Sache hat er da sicher nicht gedacht. Jede Politik, die in dem alten demokratischen Wahlspruch >Alles für das Volk und alles durch das Volk< das zweite Glied als bloßen Formelbalast über Bord zu werfen gewillt ist, muß, so radikal sie sich gebärdet, in eine tyrannische Bevormundung auslaufen, die der des aufgeklärten Despotismus nahe verwandt ist, und zu Gegenrevolutionen reizen. Wozu die Mehrheit des Volkes in demokratischen Formen nicht zu bringen ist, das läßt sich auch von außen her durch diktatorische Gewaltanwendung von Minderheiten ihm nicht aufoktroyieren. Die Menschen wollen sich, auch selbst zu ihrem Glücke, durch keine fremde Willkür zwingen lassen.
[...]
Es ist erfreulich und ein Zeichen für das Fortbestehen gewisser Gemeinsamkeiten der Gesinnung, daß den Stimmen, die sich bei den Unabhängigen Sozialdemokraten [gemeint ist der Spartakusbund, Anm.] zu Lob und Preis der diktatorischen Taktik erhoben haben, aus deren Kreisen selbst sofort die schärfste Opposition entgegentrat. [Karl] Kautsky [der führende marxistische Theoretiker seiner Zeit, Anm.] hält die Frage für so wichtig, daß er seine kurze Verwahrung gegen dieses allerneueste Umlernen in der Sozialistischen Auslandskorrespondenz durch eine, die Kontroverse grundsätzlich im Zusammenhang erläuternde Broschüre Die Diktatur des Proletariats ergänzt, die mit den vorgebrachten Scheinargumenten überzeugend aufräumt. Das natürliche, unverkünstelte Rechtsempfinden und realpolitische Erwägungen vom sozialistischen Standpunkt führen in gleicher Weise zur Ablehnung dieses Prinzips, das sich, sobald man es überhaupt nur näher zu formulieren sucht, in all seinen inneren Widersprüchen und Unmöglichkeiten verrät. Der Glaube an die Wundermacht revolutionärer Despotie ist ebenso utopisch und verworren wie sein Gegenstück; wie jener Glaube an die Wundermacht des Anarchismus, der ohne festgefügte Ordnung von einem Zukunftsreich der allgemeinen Harmonieen träumte.
Quelle:
Der Aberglaube an die Gewalt, in: Sozialistische Monatshefte, Heft 17, 15. Okt. 1918, S. 937-940.
In: http://library.fes.de/cgi-bin/populo/sozmon.pl?f_FST=1918-10-15&t_heft
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Conrad_Schmidt#/media/File:Conrad_Schmidt.jpg