Drinnen oder draußen? Über die Fliehkräfte in der "Weimarer Koalition"
Die Regierung unter Beteiligung der Mehrheitsparteien - MSPD, Linksliberale und Zentrum - konnte mit dem Wunsch nach einer Demokratisierung des Reiches und einen baldigen Friedensschluss wichtige gemeinsame Nenner für sich verbuchen. Ein Artikel des Vorwärts weißt jedoch bereits auf die Sollbruchstelle jener Koalition hin, die später als Weimarer Koalition die Nationalversammlung dominieren wird.
Der christliche Gewerkschaftsführer Adam Stegerwald, der wegen seiner sozialpolitischen Bemühungen laut Vorwärts seinerseits unter "Bolschewismus"-Vorwürfen zu leiden habe, fühle keine besondere Freude über die neue Regierung. Sieht er etwa die mit der MSPD eng verbundenen Gewerkschaften als unliebsame Konkurrenzorganisationen? Von der Zentrumspartei forderte Stegerwald jedenfalls ein Ende der "rein taktischen" Politik unter Erzberger und eine Rückbesinnung auf konservative, katholische Werte
Tatsächlich wird das Zentrum in der Weimarer Republik stets eine Schauckelpolitik zwischen dem linken und dem rechten Lager fahren. Die MSPD wünschte sich jedoch bereits im Okt. 1918 eine definitive Bejahung der gemeinsamen Regierungsarbeit. Ein wichtige Forderung, welche die Liberalen umgekehrt an die MSPD richten werden...
Volltext:
Stegerwald gegen die Politik des Zentrums.
„Bolschewisten“ im Zentrum! – Die sozialdemokratische Konkurrenz.
Der christliche Gewerkschaftsführer A[dam] Stegerwald hat in zwei Reden in Düsseldorf und Köln sich abermals mit der Zentrumspolitik befaßt. Es handelt sich um den dritten Vorstoß der westdeutschen Arbeiter-Zentrumswähler, als deren erster die große Bochumer Kundgebung der Zentrumswähler Rheinland-Westfalens am 28. Juni zu betrachten ist. Wie Stegerwald in dem Vorwort zu seiner Kölner Rede (vom 27. Juli) urteilt, haben „manche Zentrumsleute“ geglaubt, die Bochumer Kundgebung der katholischen Arbeiter als eine „Bolschewistentagung“ bezeichnen zu sollen. Stegerwald erklärte am Sonntag, daß er trotz der in der Zentrumspresse erschienen Betrachtungen die Kölner Rede heute genau so halten würde. Auch jetzt forderte er vom Zentrum wieder Aufstellung großer klarer politischer Ziele statt einer „überwiegend auf Taktik eingestellten Politik“, ferner nachdrückliche „Pflege des Verständnisses für die Gärung“, die sich aus Anlaß des Weltkrieges insbesondere in der Arbeiterschaft vollziehe. Der Zentrumspartei von heute fehlten die großen Ziele und Ideale. Die kürzlich veröffentlichten Richtlinien für die Parteiarbeit sollten kein Programm darstellen: ein solches werde aber für die Zukunft dringend nötig. Das politische Gesellschaftsideal des Zentrums sei ihm in seinen Einzelheiten nicht bekannt. Ueber das Verhältnis zwischen Zentrum und katholischer Kirche wüßten eigentlich nur die führenden Köpfe der Partei Bescheid.
Der jetzige Krieg stelle politisch die größte Weltrevolution aller Zeiten dar. An der Tatsache, daß der deutsche Vormachtsstaat Preußen umgestaltet werden müsse, komme kein Mensch vorbei: Preußen, [.] halbkonstitutioneller Obrigkeits- und Beamtenstaat, müsse jetzt unvermittelt und unorganisch etwa zwei Menschenalter überspringen, um zum Volksstaat zu kommen. Ohne daß die Arbeiter restlos ihre Schuldigkeit getan haben, hätte Deutschland den Existenzkampf nicht bestehen können. Vor hundert Jahren sei nachträglich nicht gehalten worden, was man dem Volke während der Freiheitskriege versprach, und nach 1870 seien Kulturkampf und Sozialistengesetz gekommen. Die breitesten Volksschichten hätten nach solchen Erfahrungen zwingend gefordert, daß diesmal schon während des Krieges die staatliche Neugestaltung erfolge.
Besonders befaßte sich Stegerwald auch mit der Frage der katholischen Arbeitervereine. Wenn die kirchliche Behörde nicht gestatte, daß diese sich praktisch mit politischen Dingen befassen, so müßten besondere Arbeiter-Zentrumswählervereine geschaffen werden, und dann würden die Mitglieder der letzteren nicht auch noch Mitglieder in den katholischen Arbeitervereinen sein oder noch besondere Beiträge an die Zentrumsorganisation zählen wollen. Diese Frage behandelte Stegerwald von dem Gesichtspunkte der sozialdemokratischen Konkurrenz aus, wie überhaupt die ganze Aktion der westdeutschen katholischen Arbeiterführer von der Sorge des Anschlusses ihrer bisherigen Gefolgschaft an die Sozialdemokratie diktiert worden ist.
Quelle:
Vorwärts Nr. 273 / Jg. 35 vom 4.10.1918
In: http://fes.imageware.de/fes/web/
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Adam_Stegerwald