Eine Antwort des "auserwählten Volkes" an Walther Rathenau
Walther Rathenau war neben seinem Engagement als Industrieller und Wirtschaftspolitiker auch ein sehr umtriebiger Publizist. In zahlreichen Schriften ging er auch wiederholt auf jüdische Themen bzw. das Judentum ein, was wiederholt zu Kontroversen führte. In dieser Rezension der "Allgemeinen Zeitung für das Judentum" wird Rathenau eine kleine Nachhilfe in jüdischer Religionslehre gegeben und ironisch festgestellt, dass dieser "gute Deutsche" so manche jüdische Charaktereigenschaft habe.
Volltext:
- "Doch kennt Ihr auch das Volk,
Das diese Menschenmäkelei zuerst
Getrieben? Wißt Ihr, Nathan, welches Volk
Zuerst das auserwählte Volk sich nannte?
Wie? wenn ich dieses Volk nun zwar nicht haßte,
Doch wegen seines Stolzes zu verachten
Mich nicht entbrechen könnte? Seines Stolzes,
Den es auf Christ und Muselmann vererbte,
Nur sein Gott sei der rechte Gott!"
So spricht zu Nathan der Tempelherr. An diese Worte wird man erinnert, wenn Walther Rathenau in seinem neuesten Buche "An Deutschlands Jugend" (nach dem Probestück im "Berliner Tageblatt" vom 28. September d.J.) zum Zwecke eindringlicher Belehrung auf das jüdische Volk hinweist. Rathenau ist kein Tempelherr, und doch ist seine Aeußerung viel ungerechter als die des heißblütigen Assad-Sprossen [in Lessing Stück Nathan der Weise, Anm.] Er [d.i. Rathenau, Anm.] sagt: "Es hat ein Volk gegeben, das sich das auserwählte genannt hat. Es war kein schlechtes Volk, es hat der Welt die Offenbarung, viele Propheten und ein herrliches Buch gebracht. Wegen seines verruchten Stolzes auf Auserwähltheit aber ist es in die vier Winde zerstreut wirden, seine Kinder haben zweitausend Jahre in Blut und Tränen gebüßt, und ihrer Buße und Tränen ist noch heute kein Ende.
Gott verhüte, daß auf unser deutsches Volk dieser Frevel falle."
Was für eine seltsame religiöse Geschichtsauffassung liegt dieser Ansicht zugrunde! Wegen seines Glaubens an den eigenen Wert soll Isreal in die Qualen des Exils gejagt sein! Ist es nicht vielleicht untergegangen, weil das winzige Volk zwischen die mächtigsten Nationen gelagert, ein Spielball der Weltmächte geworden war? Hat nicht vielleicht die unkluge Politik seiner regierenden Herren die Vernichtung seines Staatswesens verschuldet? Wenn der fromme Jude in diesen Festeszeiten immer wieder demütig bekennt: "Wegen unserer Sünden sind wir aus unserem Lande vertrieben", so denkt er in seinem unerschütterlichen Glauben an die göttliche Gerechtigkeit, nicht an die Sünde, die Rathenau als seiner Leiden Quell ansieht. Hätte Isreal nicht den Glauben an seine "Auserwähltheit" gehabt - ein Glaube, den jedes selbstbewußte Volk, das seine währende Bekenneraufgabe gehabt, so hätte es nicht zweitausend Jahre in Blut und Tränen verbringen können. Es wäre zermalmt und zerrieben unter den Völkern, es wäre längst untergegangen im Wirbel der Völkergeschicke. Aber Isreal lebt! Wie die Großen in Isreal zu allen Zeiten den Auserwähltheitsglauben nicht im Sinne nationaler Ueberhebung, sondern als sittliche Aufgabe gedeutet und gepredigt haben, scheint leider Rathenau nicht zu wissen, Rathenau, der doch selbst ein Beispiel dafür ist, wie die feinsten und stolzesten Geister des Judentums es nie an unerbittlicher Selbstkritik haben fehlen lassen. Er scheint nicht zu wissen, daß schon der alte Prophet Amos (Kap. 3,2) seinen Volksgenossen sagt: "Euch habe ich erkannt aus allen Geschlechtern der Erde - darum will ich an euch all eure Sünden ahnden" und (Kap. 8,7): "Seid ihr mir nicht wie die Kuschiten, Kinder Israels? ist der Spruch des Ewigen. Ja, ich habe Israel aus dem Land Aegypten geführt - und die Philister aus Kaphtor und Aramäer aus Kir."
Wie leicht hätte Rathenau über den jüdischen Erwählungsglauben sich belehren lassen können, wenn er etwa [Max] Dienemanns Artikel in Nr. 11 des "Korrespondenz-Blattes des Verbandes der Deutschen Juden" (1912) oder die Darstellung in [Leo] Bäcks "Wesen des Judentums", S. 45ff. - um nur leicht zugängliche populäre Schriften zu nennen - gelesen hätte. Seinen Aufsatz schließt Rathenau mit den schönen Worten:
"Eines freilich haben wir vor allen anderen Völkern voraus, eines, das keine Ruhmredigkeit gestattet und keinen Neid herausfordert: die Härte und Schwere der metaphysischen Pflicht. Deshalb ist uns der Blick nach innen und nach oben gegeben, das Streben zur Sache, zu den Dingen und zur Wahrheit: damit wir das Nahe und Ferne erfassen und begreifen, damit wir die Dinge in ihrer Beziehung zum Kosmos erfühlen, damit wir höchste Gerechtigkeit üben, uns selbst härter prüfen als alle anderen und das Schwerste von uns verlangen. Und deshalb ist uns harter Boden, harter Himmel und hartes Leben gesetzt, damit wir nie erlahmen, im schwersten Dienst den göttlichen Geist zu verherrlichen. Leichtes Leben, leichte Freude und leichtes Urteil, das anderen freisteht, ziemt uns nicht. Wenn wir die Gnade der bitteren Verantwortung, die auf uns gelegt ist, voll erfassen, so werden wir die dankbarsten aller Menschen und im Stolze des höchsten Dienstes die demütigsten sein."
So spricht sicherlich ein guter Deutscher. Aber Walther Rathenau mag es uns nicht übelnehmen: genau so, mit denselben Worten, kann der gute Jude seine "Auserwähltheit" bekennen.
Quelle:
Walther Rathenau und die Auserwähltheit, von Dr. M[eier] Spanier (Berlin), in: Allgemeine Zeitung des Judentums Nr. 41 / Jg. 82 vom 11.10.18
In: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/id/3224737
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Walther_Rathenau#/media/File:Gedenkstein_Walther_Rathenau.JPG