Eine Regierung Haase - Ledebour? MSPD: „Törichte Streiche machen wir nicht mit!“
Ein Gerücht geht um: Kommt eine linke Regierung unter Hugo Haase und Georg Ledebour (beide USPD)? Die MSPD ist mittlerweile an der Regierung beteiligt. Ihr Organ, der Vorwärts, hält von dieser Vorstellung nichts. Nur auf dem Wege der parlamentarischen Demokratie sei der Weg zum Sozialismus zu gehen.
Volltext:
In einigen Fabriken Groß-Berlins sprechen manche Leute von einer Regierung Haase-Ledebour als von einem kommenden Ereignis. Haase-Ledebour ist für sie ungefähr die deutsche Uebersetzung von Trotzki-Lenin. Die Regierung Haase-Ledebour soll die Diktatur des Proletariats verkörpern, die auf die Herrschaft der Arbeiterräte gegründet sein soll.
Daß diese Uebersetzung aus dem Russischen nicht ganz richtig ist, sei nur nebenbei erwähnt. Haase-Ledebour gehören zu einer ganz anderen Richtung als Trotzki-Lenin. In einem Flugblatt der neuen Kommunistensekte, die sich durch den Zusammenschluß zweier anderer kleiner Gruppen gebildet hat, lasen wir neulich, die Unabhängigen unterschieden sich von den Sozialdemokraten durch nichts als durch ein gleißendes Phrasenmäntelchen. Das ist, wie zahlreiche Flugschriften bezeugen, die Auffassung aller (aber diese „alle“ sind nur recht wenige), denen es mit der Uebersetzung aus dem Russischen ernst ist. Und die Unabhängigen sind ja in der Tat durchaus keine Bolschewiki.
Aber davon abgesehen, wäre eine Regierung Haase-Ledebour für uns eine sehr diskutable Sache. Mit Freuden würden unsere Genossen heute aus den Aemtern gehen, und die anderen Minister, sofern sie vernünftig sind, würden ihnen mit Freuden folgen, wenn Haase und Ledebour ihnen die furchtbare Last der Verantwortung abnehmen wollten. Die Aufgabe der neuen aus den Unabhängigen gebildeten Regierung wäre dann, einen erträglichen Frieden zu schließen, die Volksernährung sicherzustellen und unsere Kriegswirtschaft in den Friedenszustand überzuleiten.
Es ist selbstverständlich, daß eine aus Unabhängigen gebildete Regierung auf jedes Zusammenarbeiten mit den bürgerlichen Parteien – höchst wahrscheinlich auch mit uns „Regierungssozialisten“ – verzichten würde. Sie soll ja eine reine Proletarierregierung sein und binnen allerkürzester Zeit – nicht wie die „Regierungssozialisten“ beabsichtigen, Schritt für Schritt – die sozialistische Gesellschaftsordnung in Deutschland einführen.
Wer den Mut hat, diese Aufgabe zu übernehmen, und wer glaubt, mit ihrer schnellsten Lösung das Glück des Volkes fördern zu können, der trete vor!
Es wird sich aber keiner melden“ Denn jeder marxistisch geschulte Sozialist, der nicht zu Ziele vor seinen Augen sieht, sondern auch mit den Verhältnissen rechnet, unter denen diese Ziele erreicht werden sollen, weiß, daß ein derartiges Unternehmen von vorneherein dazu bestimmt ist, Schiffsbruch zu erleiden und den Sozialismus zu kompromittieren.
Die erste Voraussetzung für die Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft ist der Frieden. Diesen zu erreichen, ist die neue Regierung Deutschlands nach Kräften bemüht. Die Schwierigkeiten kennt jedermann. Wer bessere Mittel weiß, sie zu überwinden, als die bisher versuchten, der nehme das Wort!
Die zweite Voraussetzung ist die Uebereinstimmung des Volkes mit den Zielen und den Methoden der sozialistischen Regierung. Ein Sozialismus, der nicht aus dem Leibe der Demokratie gewachsen ist, bleibt eine lebensunfähige Mißgeburt. „Was will das Volk?“ Das muß für uns Sozialdemokraten die erste Frage sein. Die Antwort kann nur lauten: „Das Volk wünscht ganz offenbar den Fortschritt zur Demokratie, es ist wahrscheinlich auch für weitgehende Reformen im Sinne des Sozialismus zu haben, aber die Politik der Unabhängigen lehnt es ab.“ Siehe die vorgestrige Wahl in Berlin I, siehe Niederbarnim, Zwickau, Spandua-Osthavelland usw.
Eine Regierung Haase-Ledebour könnte sich nicht auf den Volkswillen, sondern nur auf die Diktatur stützen. Das erste, was sie zu tun hätte, wäre, den Belagerungszustand, der jetzt abgebaut wird, wieder einzuführen, die Preß- und Versammlungsfreiheit, die jetzt wieder eingeführt werden soll, wieder abzuschaffen. Denn, wer nicht das Volk hinter sich hat, kann sich nur durch Gewalt halten, mag er ein Altdeutscher oder ein Unabhängiger sein.
Welche Mittel hätte die reinproletarische Diktaturregierung an der Hand, um die Volksernährung sicherzustellen? Zur Sicherstellung der Volksernährung gehört eine willig produzierende Bevölkerung auf dem Lande und ein williger Verwaltungsapparat. Wie will man das beschaffen? Um nur von dem Verwaltungsapparat zu sprechen, so gehören dazu Zehntausende erfahrene und geschulte Leute – wo sollen die mit einem Male hergenommen werden? Fehlen sie und fehlen die Mittel, die Abneigung der Landwirte gegen die Produktion unter den neuen Bedingungen zu brechen, können die Schwierigkeiten des Güterverkehrs nicht glatt überwunden werden, so wird die „Herrschaft des proletarischen Sozialismus“ für die Massen der Arbeiterklasse mit einer Hungerperiode beginnen, wie sie auch während des Krieges noch nicht erlebt worden ist.
Und die Umwandlung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in die sozialistische – wie stellt man sich die vor? Kann irgendein vernünftiger Mensch glauben, eine solche Entwicklung lasse sich über das Knie brechen, und der Sozialismus sei schon da, wenn man ihn bloß proklamiert? Sozialisierung ist Organisierung, ist ruhig-planmäßige, alles vorausberechnende Verwaltungsarbeit! Mit Gewalt ist das nicht zu erreichen. Mit Gewalt kann man Gewalt niederschlagen, Hindernisse aus dem Weg räumen, niederreißen. Aufbauen kann man nur mit Plan und Ueberlegung.
Wer da glaubt, dem tausendfach verwickelten Geäder der Wirtschaftsordnung mit bloßer Gewalt beikommen zu können, der gleicht dem Manne, der sich mit Hammer und Säge naht um eine Taschenuhr zu reparieren.
Was soll durch Gewalt erreicht werden? Mit Gewalt kann man die Staatsform ändern, die Demokratie erreichen oder – zerstören. Würde Gewaltanwendung jetzt Förderung oder Zerstörung der Demokratie bedeuten? Die Unentwegten geben ruhig zu: Die Zerstörung, wenigstens für die „Übergangsperiode“. Mit dem alten Programm der Sozialdemokratie, zu dem wir uns bekennen und zu dem sich auch die Unabhängigen bekennen – wie sie behaupten, nur noch grundsatzfester als wir – läßt sich ein solches Vorhaben nicht vereinbaren. Wer die Demokratie, das Recht des Volkes, über sich selber zu bestimmen, verneint, hat auf den Namen eines Sozialdemokraten keinen Anspruch. Würden Haase und Ledebour nach den Plänen jener Wirrköpfe zur Regierung gelangen, so geschähe das gegen ihre eigenen Grundsätze. Und da die Unentwegten der Unentwegten in jenen beiden Männern ja längst „Sozialverräter“ erblicken, würde die Entwicklung sehr schnell auch über sie hinweggehen. Wohin?
Den Phantasten, die von einer reinen Proletarierregierung Haase-Ledebour reden, oder die gar schon in ihren Gedanken eine noch weiter links stehende Regierung gebildet haben, schwebt das russische Vorbild vor, das sie nicht kennen. Kennten sie es, so würden wahrscheinlich auch sie nicht glauben, auf diesem Weg etwas für das zukünftige Glück des Volkes erreichen zu können. Der Bolschewismus hat bisher das russische Volk nicht glücklich gemacht, leider! Ob er je dazu kommen wird, ist noch sehr die Frage! Man sollte verständigerweise erst die Erfolge abwarten.
Wir Sozialdemokraten wollen zunächst den Frieden und die Volksregierung. Dann wollen wir alle sozialistischen Reformen einführen, zu denen wir die Zustimmung des Volkes gewonnen haben. Bewähren sie sich, so wird uns das Vertrauen des Volkes rasch höher und höher tragen, bis wir das ganze Werk des Sozialismus vollenden können. Es gibt keinen denkenden Sozialisten, der sich die Sache anders vorstellen kann, und wir glauben, daß Haase und Ledebour – Bernstein nicht zu vergessen“ – derselben Meinung sind. Wenn nicht, mögen sie es sagen“
Wir wollen arbeiten. Zu Kindereien ist keine Zeit.
Jeder seiner Verantwortung bewußte Sozialdemokrat muß die Arbiter davor warnen, den unsinnigen Ratschlägen Unverantwortlicher zu folgen. Wir appellieren an die Einsicht und an das Gewissen der Genossen, die in Jahrzehnten des Klassenkampfes geschult sind. Törichte Streiche machen wir nicht mit!
"Vorwärts", Berliner Volksblatt vom 17. Oktber 1918 (PDF 1,8MB)
Quelle:
Der Vorwärts vom 17. Oktober 1918, 35:286 (1918), S. 1f.
Bildquelle:
Die auf dieser Seite verwendeten Bilder zum Berliner Volksblatt "Vorwärts" vom 17. Oktber 1918 unterliegen der CC-Lizenz: CC BY-NC-SA 3.0