Harry Graf Kessler: "Mit der Entente gegen den Bolschewismus oder mit dem Bolschewismus gegen die Entente?"
In Russland ist die Revolution schon fast ein Jahr alt, und in Deutschland sorgen sich vor allem Bürgerliche und Konservative vor ‚russischen Verhältnissen‘. Harry Graf Kessler vertraut sie seinem Tagebuch an, genauso wie Überlegungen zu Elsass-Lothringen. Soll es ein eigener Staat werden?
Volltext:
22 Oktober. 1918. Dienstag. Bern - Basel.
Unterredung mit Schubert u Renthe-Finck, die diese herbeiführten, offenbar um Zusagen, die ihnen zu weit giengen, in der elsässischen Frage zu verhindern. Schubert bat mich, in Berlin die Formulierung des Selbstbestimmungsrechts für Elsass-Lothringen nicht zu präzis zu fassen, keine Einzelheiten auszusprechen, wie Recht, zwischen Frankreich u Deutschland zu wählen, Plebiszit u.s.w., sondern nur ganz allgemein sagen zu lassen, dass der autonome Staat E. L. später von uns nicht gehindert werden werde, über seine Zukunft selber zu entscheiden. Besser noch, wenn nicht die Regierung, sondern blos der Reichstag in einer Resolution Dieses ausspräche. Ich fürchte, dass wieder lauter Kleinlichkeiten die grosse Wirkung verhindern. […]
Abends nach Basel. Nasse dort getroffen, der eben aus Berlin ankam. Er machte einen niedergebrochenen Eindruck. Seine Hauptfurcht ist die vor dem deutschen Bolschewismus. An der Front, in der Etappe, in der Heimat, überall rege er sich. Der linke Flügel der Unabhängigen (Mehring, Kautsky u s. w) stünde zu ihm; auch Haase u. Ledebour liebäugelten. Seine wirklichen Führer kenne man nicht; sie würden im entscheidenden Augenblick hervortreten. Sein Mittelpunkt sei die russische Botschaft in Berlin. Alle Fäden führten immer wieder dorthin, Joffe spiele den Biedermann, der von Nichts wisse. Aber bei dem Umzug vor einigen Tagen sei aus den Fenstern der russischen Botschaft mit roten Tüchern gewinkt worden, die Leute der russischen Gefangenen Fürsorge spielten die Hauptrolle, eine Sekretärin der russischen Botschaft, Fräulein Rauch, habe den Umzug organisiert. Bisher habe man keine positiven Beweise, aber Nasse behauptet, er hoffe sie in wenigen Tagen beschaffen zu können. Er scheint deshalb in Berlin gewesen zu sein. Dann werde man die Exterritorialität der Botschaft aufheben u. nur noch einen russischen Generalkonsul in Berlin dulden. Solange die russische Botschaft exterritorial sei, könnten die deutschen Bolschewisten dort ihre Papiere in Sicherheit bringen, vielleicht Flugblätter drucken lassen u.s.w. Unsere Front hält Nasse nicht mehr für fest, wegen des Bolschewismus. Sie werde nur noch kurze Zeit halten. Dann würden grosse Teile einfach fortgehen; wenn sie mit ihren Waffen die Heimat überfluteten, dann werde es gehen wie in Russland. An die Volkserhebung glaubt Nasse nicht. Er sei in den Fabriken gewesen, habe Versammlungen mitgemacht. Die Arbeiter giengen einfach nicht mehr an die Front. In Berlin seien schon 20 000 Deserteure. Unsere Rückschläge seien hauptsächlich auf den veränderten Geist der Truppe zurückzuführen. Nasse hält nicht blos den Kaiser sondern die Dynastie selbst für schwer gefährdet. Auch Haase u Ledebour arbeiteten für eine deutsche Republik. Auch mir scheint, wir werden in nicht allzuferner Zeit entweder mit der Entente gegen den Bolschewismus, oder mit dem Bolschewismus gegen die Entente gehen müssen. Die alten Waschweiber wie Simson und Nasse wird man, wenn es so oder so ernst wird, knebeln müssen.
Quelle:
Riederer, Günter, Hilse, Christoph (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Sechster Band 1916-1918, Stuttgart 2004, S. 588 f.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Graf_Kessler#/media/File:Harry_Graf_Kessler,_1917.jpg