Kanzler fragt Militärs: "Wie schlimm ist es?" - Antwort: "Natürlich sind wir unbesiegbar, aber..."
Am 3. Oktober 1918 - sicherlich ein 'Schicksalstag der Deutschen' - wird Prinz Max von Baden durch den Kaiser Wilhelm II zum neuen Reichskanzler bestimmt. Von Baden soll auf Anweisung der Obersten Heeresleitung (OHL) unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff ein Waffenstillstandsgesuch an die Kriegsgegner richten. Gleichzeitig wird v. Baden der erste Reichskanzler sein, der mit dem Vertrauen des Reichstag regieren soll.
Mit diesem wichtigen Zugeständnis wird die weitere Parlamentarisierung des Deutschen Reiches vorangetrieben und langjährige Wünsche der "Mehrheitsparteien" erfüllt. Namentlich die MSPD, die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei und die katholische Zentrumspartei hatten bereits mehr als ein Jahr vorher in einer Friedensresolution den nun durch eine neue Reichsregierung vollzogenen Schritt verlangt. Dagegen hatten USPD, Konservative und Nationalliberale gestimmt.
In diesem Schriftwechsel versuchte v. Baden klarere Aussagen von der OHL über die militärische Lage zu bekommen. Hindenburg reagierte mit einer Mischung aus Alarmismus und Abwiegelung. Zwar sei die militärische Lage noch stabil, sie verschlechtere sich aber zusehends. Dass die militärische Lage nach dem Totalausfall der deutschen Verbündeten und dem Kriegseintritt der USA in Wahrheit katastrophal war, mag Hindenburg nicht zugeben. Später werden er und Ludendorff die Erzählung vom "Dolchstoß in den Rücken einer siegreichen Front" verbreiten, um ihre militärische Niederlage zu kaschieren. Für die Weimarer Republik wird diese Verschwörungstheorie eine der schwersten Hypotheken darstellen.
Volltext:
Prinz Max von Baden an Hindenburg, 3. Oktober 1918, Abgegangen: 2 Uhr 10 nachm[ittags]
Dringend
Bevor ich mich über die Einleitung der von der Obersten Heeresleitung [im Nachfolgenden OHL, Anm.] gewünschten Friedensaktion schlüssig mache, beehre ich mich, Euere Exzellenz um Stellungnahme zu folgenden Fragen zu bitten:
1. Wie lange kann die Armee den Feind noch jenseits der deutschen Grenzen halten?
2. Muß die OHL einen militärischen Zusammenbruch erwarten und bejahendenfalls in welcher Zeit? Würde der Zusammenbruch das Ende unserer militärischen Widerstandskraft bedeuten?
3. Ist die militärische Lage so kritisch, daß sofort eine Aktion mit dem Ziel Waffenstillstand und Friede eingeleitet werden muß?
4. Für den Fall, daß die Frage zu 3 bejaht wird, ist die OHL sich bewußt, daß die Einleitung einer Friedensaktion unter dem Druck der militärischen Zwangslage zum Verlust deutscher Kolonien und deutschen Gebiets, namentlich Elsaß-Lothringen und rein polnischer Kreise der östlichen Provinzen führen kann?
[...]
Euerer Exzellenz wäre ich für sofortige Antwort dankbar.
Mündliche Antwort Hindenburgs auf die Fragen des Reichskanzlers von Baden, ebenfalls am 3. Oktober:
1. Antwort: Die Frage kann nicht in derselben präzisen Form, in der sie gestellt ist, beantwortet werden. Das Halten hängt von vielen Faktoren ab, und auch davon, mit welcher Kraft und welchen Mitteln der Gegner seinen Angriff fortsetzt und wie sich demgegenüber unsere Widerstandskraft auf die Dauer beweist.
Gegenwärtig steht das deutsche Heer fest, gezwungen wird es, von Abschnitt zu Abschnitt, sich zäh an den feindlichen Boden klammernd, auszuweichen. Die Dauer solcher Rückbewegung ist nicht genau vorher zu bestimmen. Man kann aber hoffen, daß sie bis zum nächsten Frühjahr deutsches Gebiet schützen werde.
2. Antwort: Die Frage ist durch Antwort zu 1 mit beantwortet. An einen allgemeinen Zusammenbruch glaube ich nicht. Das auf feindliche Einbrüche folgende ausweichende Zusammenziehen der Front braucht einen solchen nicht zur Folge zu haben, solange noch irgend welche Reserven vorhanden sind.
[...]
4. Antwort: Die OHL zieht, dalls es nicht anders geht, die Aufgabe geringer, französisch sprechender Teile Elsaß-Lothringens in Betracht. Abtretung deutschen Gebiets im Osten kommt für sie nicht in Frage.
Schriftliche Antwort Hindenburgs an Reichskanzler von Baden, ebenfalls am 3. Oktober:
Die OHL bleibt auf ihrer am Sonntag, dem 29. September d.J. gestellten Forderung der sofortigen Herausgabe des Friedensangebotes an unsere Feinde bestehen.
Infolge des Zusammenbruchs der mazedonischen Front, der dadurch notwendig gewordenen Schwächung unserer Westreserven und infolge der Unmöglichkeit, die in den Schlachten der letzten Tage eingetretenen sehr erheblichen Verluste zu ergänzen, besteht nach menschlichem Ermessen keine Aussicht mehr, dem Feinde den Frieden aufzuzwingen.
Der Gegner seinerseits führt ständig neue, frische Reserven in die Schlacht.
Noch steht das deutsche Heer festgefügt und wehrt siegreich alle Angriffe ab. Die Lage verschärft sich aber täglich und kann die OHL zu schwerwiegenden Entschlüssen zwingen.
Unter diesen Umständen ist es geboten, den Kampf abzubrechen, um dem deutschen Volke und seinen Verbündeten nutzlose Opfer zu ersparen. Jeder versäumte Tag kostet Tausenden von tapferen Soldaten das Leben.
gez. v. Hindenburg, Generalfeldmarschall
Quelle:
Ursachen und Folgen vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, Hg. u. bear. v. Herbert Michaelis / Ernst Schraepler / Günther Scheel, Bd. 2, Der militärische Zusammenbruch und das Ende des Kaiserreiches, Berlin 1959, S. 330-332. [im Folgenden: Ursachen und Folgen, Bd. 2]
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Max_von_Baden#/media/File:Bundesarchiv_Bild_183-R04103,_Prinz_Max_von_Baden.jpg