Liberale Reaktionen auf die Wilson-Note
Der Waffenstillstand war noch gut drei Wochen entfernt, aber der Austausch von Noten zeigt, dass die Alliierten keinen Zweifel hatten: Deutschland war geschlagen, und dementsprechend werden harte Bedingungen für den Waffenstillstand verlangt. Robert Lansing war seit 1915 Außenminister der USA. Das in der Meldung erwähnte Schiff „Leinster“ war ein Passagierschiff, das am 10 Oktober von einem deutschen U-Boot versenkt wurde – mit 564 Toten. Das U-Boot selbst ging vermutlich auf der Rückfahrt nach Deutschland in ein Minenfeld; jedenfalls erreichte es nie seinen Heimathafen.
Die dritte hier wiedergegebene Nachricht zeigt, dass trotz allem der Alltag in Berlin weiterging. Für einen verstorbenen Abgeordneten des Reichstags wurde eine Nachwahl abgehalten. Kempner, der linksliberale Kandidat, sollte die Stichwahl am 29. Oktober gewinnen, konnte sein Amt wegen der Revolution aber nicht mehr antreten. Sein Gegenkandidat, der Sozialdemokrat Heimann war bereits seit 1908 preußischer Landtagsabgeordneter und sollte in der Weimarer Republik in der Nationalversammlung und im Reichstag wichtige Rollen einnehmen. 1933 emigrierte er in die USA.
Volltext:
- Der Reichstag und die Antwort Wilsons. Fraktionssitzungen
Im Reichstage herrschte heute schon in den ersten Vormittagsstunden ein reges Leben. Abgeordnete sämtlicher Parteien waren im Hause anwesend. Man besprach lebhaft die Lage, die durch die zweite Antwortnote des Präsidenten Wilson eine wesentliche Änderung erfahren habe. Einige Parteien, so die Fortschrittliche Volkspartei, die Sozialdemokraten, die Polen, die Konservativen und die Deutsche Fraktion sind bereits zu Fraktionssitzungen zusammengetreten. Zur Diskussion steht selbstverständlich überall die Wilsonsche Note. Heute Nachmittag werden auch das Zentrum und die Nationalliberalen Fraktionssitzungen abhalten.
Wann die nächste Plenarsitzung des Reichstags stattfinden wird, steht noch nicht fest. Es ist nicht unmöglich, daß der Reichstag noch nicht auf Freitag zu einer Sitzung zusammenberufen werden wird. Man dürfte abwarten wollen, welche Entschließungen die Regierung, nachdem sie vorher mit der Obersten Heeresleitung Fühlung genommen hat, treffen wird.
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Gestern nachmittag 6 Uhr fand eine Sitzung des „Kriegskabinetts“ statt, die sich eingehend mit der Wilson-Note beschäftigte.
- Der Eindruck der Antwortnote Wilsons. Befriedigung in England und Frankreich.
Reuter meldet: Churchill hat in Manchester eine Rede gehalten, in der er sagte: Wilsons Antwort an Deutschland wird in allen alliierten Ländern mit großer Befriedigung aufgenommen werden. Die erste und wichtigste Bedingung ist, daß der Feind geeignete Garantien gibt, ehe wir uns damit einverstanden erklären, den Druck unserer siegreichen Heere zu erleichtern. Wir wünschen Garantien, die es Deutschland unmöglich machen, den Kampf wieder aufzunehmen. Deshalb hat in erster Linie Marschall Foch über diese Frage mitzureden. Was die Garantien zur See anlangt, so müssen diese durch den Befehlshaber der britischen Admiralität festgestellt werden. Ein weiterer Punkt ist der, daß die Deutschen ihre Grausamkeiten einstellen müssten, ehe wir mit ihnen reden. Wir verlangen keineswegs die Vernichtung Deutschlands, aber die Deutschen müssen ihren Traum einer Weltherrschaft aufgeben. Es ist besser, jetzt einen Kampf bis zum Ende durchzuführen, als ein (sic!) Kompromiß zu schließen, wodurch wie einen Teil der Früchte unserer Siege wieder verlieren würden.“
„Hollandsch Nieuwsbureau“ meldet drahtlos aus Paris vom 15. Oktober „Die heutige Abendpresse ist vollkommen mit Wilsons Antwortnote an Deutschland einverstanden. Das „Journal des Débats“ schreibt: „Im allgemeinen erklärt Wilson, daß in erster Linie die militärischen Berater der Alliierten die Bedingungen eines Waffenstillstandes festzusetzen haben und daß kein Waffenstillstand möglich sein wird, solange die deutschen Truppen zu Lande und zur See sich Grausamkeiten zuschulden kommen lassen. Der Lauf der Unterhandlungen hänge von der Regierung, die Deutschland hat, ab. Die Noten aus Washington haben allmählich einen lösenden Einfluß auf die inneren Zustände in Deutschland gehabt. Die Linie Max v. Baden ist ebensogut wie die Hindenburg-Linie eingedrückt. Nach jeder Antwort Wilsons kommt die deutsche Diplomatie dem Abgrunde näher. Wir beklagen uns nicht darüber, daß Wilson die Methode eines Frontangriffs befolgt hat, aber wir freuen uns darüber, daß er auf seinem Gebiete genau so wirkt wie Marschall Foch auf dem Militärischen. Die deutsche politische Reserve ist gleichzeitig mit der deutschen militärischen Reserve erschöpft.“
Hollandsch Nieuwsbüro meldet aus London: „Die Morgenblätter erhielten Wilsons Antwort zu spät. Kommentare zu der Note sind daher erst in den Abendblättern enthalten, die einstimmig die Antwort gutheißen, ebenso wie die öffentliche Meinung. Die „Westminster Gazette“ hebt hervor, daß Lansing sich mehr an das deutsche Volk wende als an die Regierung. Wenn das deutsche Volk den anderen Völkern Mut und Unabhängigkeit beweisen will, müsse es jene stärken, die das gegenwärtige Unglück verursachten, sonst müsse es dazu gezwungen werden. Das Resultat sei für in beiden Fällen das gleiche. „Präsident Wilson tritt unaufhörlich für das Hauptkriegsziel der Alliierten ein, nämlich die Abschaffung des preußischen Militarismus. Sobald diese fundamentale Sache erledigt ist, ist alles andere nebensächlich.“ Die Räumung sei eine rein militärische Angelegenheit, die von den Militärbehörden erledigt werden müsse. „Wir müssen entschlossen erklären, daß die Fortsetzung der Gewalttätigkeiten, die Versenkung des „Leinster“ und die Zerstörung der französischen und belgischen Städte und Dörfer verhängnisvolle Hindernisse für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen sind.“. Staatssekretär Erzberger beklagt die Versenkung des „Leinster“. Sein Herz blutet, wie das Herz des Kaisers bei der Zerstörung Löwens geblutet hat. Er hat erklärt, wie sehr das deutsche Volk die Menschenopfer der Versenkungen bedauere. Es ist wohl zu seiner Erkenntnis gekommen, daß, wenn er Frieden wünscht, er mehr tun muß als Tränen vergießen nämlich seiner Regierung die Kontrolle über die Militär- und Marinebehörden sichern.
- Die Reichstagsersatzwahl in Berlin I. Stichwahl zwischen Kempner und Heimann.
Bei der gestrigen Ersatzwahl im 1. Berliner Reichstagswahlkreise, die infolge des Todes des bisherigen Mandatsinhabers, Reichstagspräsidenten Kaempf, stattfinden mußte, erhielten:
Geh. Justizrat Maximilian Kempner, der Kandidat der Fortschrittlichen Volkspartei und der Nationalliberalen 2294 Stimmen.
Der Kandidat der Mehrheitssozialisten, Stadtverordneter Hugo Heimann 1720 Stimmen
Metallarbeiter Müller, Kandidat der Unabhängigen Sozialdemokraten 520 Stimmen
Parteisekretär Gellert, Kompromißkandidat der rechtsstehenden >Parteien 171 Stimmen
Zersplittert waren 9 Stimmen.
Demnach Stichwahl zwischen Geheimrat Kempner (Fortschrittliche Volkspartei) und Stadtverordneten Heimann (Mehrheitssozialdemokrat). […]
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Die Wahlbeteiligung, die am Vormittag ziemlich viel zu wünschen übrig ließ, nahm im weiteren Verlaufe des Tages mehr und mehr zu. Nachmittags zwischen 4 und 5 Uhr kamen die Geschäftsinhaber und die Angestellten in die Wahllokale der Friedrichstadt, von 5 bis 6 Uhr trafen in der Neuen Friedrichstraße, der Friedrichsgracht und den nächstliegenden Wahllokalen die Arbeiter ein. Um dieselbe Zeit setzte auch der Schlepperdienst erneut ein, der sowohl von den Fortschrittlern, wie von den Sozialdemokraten ausgezeichnet organisiert war. Alle irgendwie erhältlichen Autos und Droschken waren in den Wahldienst gestellt und brachten ununterbrochen neue Wähler an die Urnen. Nach Ansicht einer ganzen Anzahl Wahlvorsteher war die Beteiligung bedeutend stärker als bei der letzten Stichwahl.
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Die Stichwahl ist auf den 29. Oktober festgesetzt worden.
Quelle:
Berliner Tageblatt, Nr. 530 (16.10.1918) A
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/RMS_Leinster#/media/File:Leinster_RMS_1897.jpg