Walther Rathenau über das deutsche Waffenstillstandsgesuch: "Ein dunkler Tag"
In diesem berühmt gewordenen verzweifelten Aufruf plädiert Rathenau, der den Krieg von Anfang an für unsinnig gehalten hatte, in letzter Stunde für eine allgemeine Volksbewaffnung, für ein „levée en masse“ – auch wenn dieser Ausdruck niemals so fällt. Die Generäle hatten die Nerven verloren, der ganz und gar unkriegerische Zivilist Rathenau sah die Folgen davon nur zu deutlich. Ausgerechnet jetzt ruft Rathenau, der schon vor Jahren das Ende des Krieges verlangt hatte, zu seiner Verlängerung auf – wobei er die Widerstandskraft des geschlagenen Volkes geradezu dramatisch überschätzte.
Volltext:
Der Schritt war übereilt.
Wir alle wollen Frieden. Wir, die Wenigen, haben gemahnt und gewarnt, als keine Regierung daran dachte, der Wahrheit ins Auge zu blicken.
Nun hat man sich hinreißen lassen, im unreifen Augenblick, im unreifen Entschluß.
Nicht im Weichen mußte man Verhandlungen beginnen, sondern zuerst die Front befestigen.
Die Gegner mußten sehen, daß der neue Geist des Staates und Volkes auch den Geist und Willen der Kämpfenden kräftigt. Dann mußte Wilson gefragt werden, was er unter den verfänglichsten seiner vierzehn Punkte versteht, vor allem über Elsaß-Lothringen, Polen und die Entschädigungen der westlichen Gebiete. Die verfrühte Bitte um Waffenstillstand war ein Fehler.
Das Land ist ungebrochen, seine Mittel unerschöpft, seine Menschen unermüdet. Wir sind gewichen, aber nicht geschlagen.
Die Antwort wird kommen. Sie wird unbefriedigend sein; mehr als das: zurückwerfend, demütigend, überfordernd.
Wir dürfen uns nicht wundern, wenn man die sofortige Räumung des Westens, wo nicht gar einschließlich der Reichlande verlangt. Punkt acht wird auf Herausgabe zum mindesten Lothringens, vermutlich auch das Elsaß gedeutet. Als polnischer Hafen kann Danzig gemeint sein. Die Wiederherstellung Belgiens und Nordfrankreichs kann auf eine verhüllte Kriegsentschädigung in der Größenordnung von fünfzig Milliarden hinauslaufen.
Hat man das übersehen? Wer die Nerven verloren hat, muß ersetzt werden.
Warum wird man Wilsons Forderungen ausdeutend übersteigern? Weil man unseren Willen für gebrochen hält.
Gebrochen ist und soll sein die Anmaßung einzelner auf Weltbeherrschung, auf Rechtsbruch, auf Einpflanzung des dürren und überlebten Militarismus und Feudalismus in die erstarkten Völker der Erde.
Ungebrochen ist der Wille zur freien Selbstbehauptung und Selbstbestimmung. Kein Schiedsgericht der Welt schafft uns Arbeit und Stoff und Lebensraum, den schafft nur ein würdiger und erträglicher Frieden.
Wir wollen alles Unrecht abtun, innen und außen; wir haben begonnen und werden fortfahren, doch wir wollen kein Unrecht leiden.
Mit der Festigung mußte begonnen, mit dem Funkspruch geschlossen werden; das Umgekehrte ist geschehen und nicht mehr zu ändern; unser Wort müssen wir halten
Kommt jedoch die unbefriedigende Antwort, die Antwort, die den Lebensraum uns kürzt, so müssen wir vorbereitet sein.
Die nationale Verteidigung, die Erhebung des Volkes muß eingeleitet, ein Verteidigungsamt errichtet werden. Beides tritt nur dann in Kraft, wenn die Not es fordert, wenn man uns zurückstößt; doch darf kein Tag verloren gehen.
Das Amt ist keiner bestehenden Behörde anzugliedern; es besteht aus Bürgern und Soldaten und hat weite Vollmacht.
Seine Aufgabe ist dreifach.
Erstens wendet es sich im Aufruf an das Volk, in einer Sprache der Rückhaltlosigkeit und Wahrheit. Wer sich berufen fühlt, mag sich melden, es gibt ältere Männer genug, die gesund, voll Leidenschaft und bereit sind, ermüdeten Brüdern an der Front mit Leib und Seele zu helfen.
Zweitens müssen alle die Feldgrauen zur Front zurück, die man heute in Städten, auf Bahnhöfen und in Eisenbahnen sieht, wenn es auch für manchen hart sein mag, den schwerverdienten Urlaub zu unterbrechen.
Drittens müssen in Ost und West, in Etappen und im Hinterland aus Kanzleien, Wachtstuben und Truppenplätzen die Waffentragenden ausgesiebt werden. Was nützen und heute noch Besatzungen und Expeditionen in Rußland? Schwerlich ist in diesem Augenblick mehr als die Hälfte unserer Truppen an der Westfront.
Einer erneuten Front werden andere Bedingungen geboten als einer ermüdeten.
Wir wollen nicht Krieg, sondern Frieden. Doch nicht den Frieden der Unterwerfung.
Quelle:
Vossische Zeitung, Nr. 512 (7.10.18) A
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/kalender/auswahl/date/1918-10-07/27112366/
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Walther_Rathenau#/media/File:Rathenau_sergeant.jpg