Ein übelstes Philisterium!
Kessler berichtet von beruflichen Erfolgen, beispielsweise einer Kooperation mit den Sozialistischen Monatsheften. Zudem besteht immernoch das Problem des “französischen Hasses”. Währenddessen wird im II. Rätekongress über die wirtschaftliche Situation der Republik diskutiert. Am Abend besucht ein Treffen des Demokratisches Clubs. In den Augen Kesslers ein “übelstes Philisterium”.
Volltext:
9 April 1919. Mittwoch Berlin.
Mit den Soz. Monatsheften die Herausgabe meiner Völkerbunds Broschüre abgemacht. – Redaktionsfrühstück: Prittwitz, Bornstädt, Apelt, Neven, Bern storff, Grunelius. Ausw. Politik. Verhältnis zu Frankreich, Russland, Amerika. Überwiegende Ansicht, dass wir uns in Russland mit Amerika oder Anglo Amerika associieren müssten. Ich stellte zur Erörterung, ob es nicht für uns politisch u wirtschaftlich vorteilhaft wäre, wenn wir einen Teil des amerikanischen Goldstromes über Frankreich leiteten u. aus französischen Händen entgegennähmen? D. h. falls das psychologische Hindernis zu überwinden wäre, das der französische Hass darstellt. Die Meisten hielten diese Schwierigkeit für unüberwindlich, obwohl sie prinzipiell die Vorteile meines Vorschlages einsahen. - Nachher im Rätekongress. Rede von Brass, der Noske, das Edenhotell u. die Regierung auf das heftigste angriff, namentlich wegen ihrer Lockspitzelei, u. pathetische Antwort von Wissell, der die verzweifelte Lage Deutschlands, den Trümmerhaufen, in krassen Farben malte, um eine weitgehende Sozialisierung im Augenblick für unmöglich zu erklären. Mir scheint: entweder die Sozialisierung erhöht die Produktion, dann müsste sie jetzt gerade durchgeführt werden; oder sie vermindert sie (wie Wissell offenbar annimmt), dann darf sie nie gemacht werden. Nicht dass Deutschland wirtschaftlich ruiniert ist, sondern dass die Arbeiter infolge des Krieges nicht mehr arbeiten wollen, liesse sich allenfalls einwenden. Aber warum sie in sozialisierten Betrieben noch weniger arbeiten sollten als jetzt, ist nicht einzusehen. Diese ganze Verteidigung scheint mir daher äusserst schwach, namentlich von einem Sozialdemokraten. - Abends Hauptausschuss Essen des „Demokratischen Clubs“ zur Einweihung der Clubräume im Bristol. Bernstorff (der Botschafter), Nernst, Pabst Weisse, Dr Ullstein U. S. W. Ein verlorener Abend. Bis auf einige Ausnahmen übelstes Philisterium; geistige Ebene der Bierbank. Die Menschenklasse, die man zu allererst töten müsste. Eine Mischung von Fett und Gold, die nur noch Ekel erregen kann. Was daran, ausser den Mittelstands Manieren demokratisch sein soll, mir unerfindlich. Dieselbe Klasse unterhält in Frankreich wenigstens noch kleine Mädchen oder in England Bibelklassen; hier ist es der unverblümte Sumpf, ideenloses Fett, das zu irgendwelcher Politik überhaupt kein Recht hat. Und dieses Getier kriecht jetzt dank der Revolution als Republikaner heraus. Oh Brutus! Oh Robespierre! Oh Lassalle! Diese Existenzen werden jetzt mit Blut verteidigt.
Quelle:
Reinthal, Angela (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Siebter Band 1919-1923, Stuttgart 2004, S. 227 f.