Gefangenenbriefe
Nach wie vor sind hunderttausende Soldaten in alliierter Kriegsgefangenschaft. Sie dienen insbesondere in den Verhandlungen über den Friedensvertrag als Faustpfand, wobei ihre Unterbringung denkbar miserabel ist. Der aktuell von der örtlichen Rätebewegung kontrollierte Rosenheimer Anzeiger bringt eine Auswahl an Briefen von Kriegsgefangenen, die - auch wenn ihr Wahrheitsgehalt im Detail fraglich ist - ein grelles Licht auf das Schicksal der Gefangenen werfen.
Volltext:
Die Gefangenenbriefe, die uns zugehen, geben ein so erschütterndes Bild von der körperlichen und seelischen Zerrüttung unserer unglückseligen Gefangenen, daß es ganz unfassbar ist, daß immer noch so viele ihrer Volksgenossen gleichgültig und teilnahmslos diesem Elend gegenüber stehen. Wer keine nahen Freund oder Verwandte unter den Gefangenen hat, darf nicht meinen, „es ginge ihn nichts an“. Jeder dieser Gefangenenbriefe muß in jedem das Gefühl auslösen, als wäre er an ihn gerichtet. Die Verantwortung für das Schicksal derer, die für uns leiden, muß jeden bedrücken. Es ist schwer und qualvoll, immer wieder von Schmerzen und Elend zu lesen – die Welt sehnt sich so nach Freude und Licht. Aber solange es schneidende Schmerzen gibt, ist es unmenschlich, die Augen davor zu schließen, denn sie werden dadurch doppelt schmerzhaft für den, der sie leiden muß.
Im Nachstehenden sind Auszüge aus Briefen gegeben, von denen wir wünschten, daß sie alle lesen und auch nachempfinden möchten, denn so gefühllos kann kein Herz sein, daß es diesen Schrei der Verzweiflung nicht verstehen sollte.
Skipton, Sonntag den 9. Febr. 1919.
Schöner, frostiger Tag, herrlicher Sonnenschein – und immer sitzt man noch hier, starrt auf den hoch sich anstürmenden Stacheldraht, kommt sich vor wie ein Löwe im Zoologischen, der wütend an den Stäben seines Käfigs rüttelt, ohnmächtig gegen sie anrennt. Nur erst wieder zu Hause sein – frei! Mächtig ist das Sehnen nach der Heimat, dem Inbegriff der Ruhe, des Friedens, des Glückes; frei sich bewegen dürfen ist für mich der Begriff höchster Seligkeit. Lange Monate sitzt man in der Hütte, glotzt die vier Wände an oder rennt wie irrsinnig hin und her, um das Blut etwas in Wallung zu bringen – und verfällt langsam in Blödsinnigkeit – in Wahnsinn. Jeder Hund ist glücklicher wie wir, er weiß nichts Besseres – doch Menschen mit Verstand und Vernunft in einen mit Stacheldraht umzäunten Platz einzusperren, heißt, sie in das dumpfe und öde Nichts zurückstoßen, sie systematisch dem Wahnsinn anheim fallen lassen. Ihr könnt Euch nicht in unsere Stimmung hineinversetzt denken, ganz unmöglich. Der Zuchthäusler weiß den Grund seiner Strafe, er weiß auch, in so und so vielen Jahren die Freiheit wieder genießen zu dürfen – und wir – stumpfsinnig leben wir in den Tag hinein, ohne Ziel, ohne Hoffnung, büßend für nichts. Gebrochen an Körper und Geist wankt einstens eine Schar durch die heimatlichen Straßen. Jeder, der uns sieht, flüstert es dem andern zu: „Kriegsgefangene“. Ein langweiliges „Ach so“ wird der Dank unserer Entbehrungen sein. …
P. G. Comp. 32, den 2. März 1919.
… „irgend etwas zu schreiben, ist zwecklos, denn das Elend hier übersteigt alle Grenzen. Warum macht man uns immer noch dafür verantwortlich, was die alte Regierung gesündigt hat? Ober haben wir kein Anrecht mehr darauf, als Menschen behandelt zu werden? Scheinbar nicht! Vor kurzem haben wir eine Kompagnie gesehen, bei der täglich drei bis vier Mann vor Hunger starben, also buchstäblich verhungert; ja, man scheut sich nicht, diese wehrlosen Menschen mit Stöcken, dickem Draht und Fußtritten zu traktieren, was man auch in Komp. 32 einführen wollte. Man versuchte, uns etwas Kultur in den Körper zu treten, doch zeigten wir dafür keinerlei Verständnis, waren sogar ziemlich widerspenstig. Ja, meine Liebe und Dankbarkeit für diese Hochherzigkeit werde ich später immer versuchen, zu beweisen und jedem in das Gehirn zu prägen.“
… „Von den Tanzvergnügungen in Deutschland sind wir durch die hiesigen Zeitungen genau unterrichtet. Möge das heilige Land der Treue weitertanzen auf den Schädeln seiner Toten und den Knochen seiner Gefangenen!“
St. Genest, den 2. Februar 1919.
… „Alles ist zu Hause, auch die Kameraden, welche mit mir Soldat wurden. Nur ich nicht! Warum nicht? Was habe ich verbrochen? Wann komme ich nach Hause? Nur einmal noch möchte ich Euch wiedersehen, nur einmal, lieber Gott! – Jeden Stein, auf dem ich als Junge gesessen, möchte ich küssen…“
„… Wenn man aber die Gefangenen sieht beim Franzmann, das ist ein Jammer. Keine Schuhe, zerlumpte Kleider, halb verhungert, und dann bekommen sie schwere Schläge. Ich war auch drei Wochen dort. Wie sie uns hungern ließen! Dann haben sie uns durch die Straßen geführt, uns angespuckt, mit Steinen beworfen, zu dem Posten gesagt, sie sollten uns den Hals abschneiden, in den Zug hineingeschossen mit Gewehren und verschiedene verwundet, und „Boches“ rufen sie uns noch heute zu. Mehr können sie uns nicht anhaben, weil wir amerikanische Bewachung haben. Ich könnte ein Buch von diesen Sachen schreiben. Es tut not, daß es in Deutschland veröffentlicht wird…“
Quelle:
Rosenheimer Anzeiger vom 23.4.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Rosenheim#/media/File:Rosenheim_1900.jpg