Der europäische Wirrwarr
Nicht nur in Deutschland ist der Friedensvertrag umstritten. Der Osten Europas wird weiterhin von Krieg erschüttert. Rumänien - obwohl auf Seiten der Entente - akzeptiert nicht die anvisierten Grenzziehungen. Auch in Fernost rumort es. Das ehemalige deutsche Kolonialgebiet in Schantung (Shangdong) wird von Japan beansprucht. Dass Japan sich in dieser Sache nicht gegen die USA durchsetzen wird, ist neben der rassistisch motivierten, antiasiatischen Einwanderungspolitik der USA ein Hauptgrund für die Entfremdung der beiden Nationen, die im rund 20 Jahre später Pazifikkrieg münden wird.
Wohin man auch blickt: der Versailler Vertrag bringt keinen dauerhaften Frieden.
Volltext:
Der europäische Wirrwarr.
Amerikanische Drohungen.
Die verschiedenen zum Teil ganz entgegengesetzten Interessen der in der Friedenskonferenz zusammengeschlossenen Staaten haben gegenwärtig zu einer ernsten Spannung geführt. Die von Frank Polk geleitete amerikanische Friedensdelegation hat deshalb bei dem Präsidenten Wilson angefragt, ob es Zweck für sie hätte, länger in Paris zu bleiben und den Versuch zu machen, die südöstlichen Probleme Europas zu lösen. Von der Antwort des Präsidenten wird es abhängen, ob sie in Paris bleiben und zur Entwirrung der Balkanangelegenheiten beizutragen versuchen, oder ob sie nach Washington zurückkehren und es den europäischen Mächten überlassen wird, den Wirrwarr zu ordnen, der dadurch entstanden ist, daß die Rumänen in Budapest einmarschiert sind.
Die Konferenz hielt die Rumänen mehrmals davon zurück, die ungarische Hauptstadt zu plündern, aber trotz der Pariser Ratschläge schaffen ihre Truppen alles ihnen nützliche Material fort. Es besteht auch nicht der leiseste Zweifel, daß die Rumänen bei dem Bruch der Abmachungen von ihren Verbündeten dazu ermutigt worden sind. Clemenceau war mit allen warnenden Mitteilungen einverstanden, die die Konferenz mit seiner Unterschrift an Bratianu sandte, aber gleichzeitig werden die Rumänen weiter von ihren Verbündeten dazu ermutigt, die Magjaren auszuplündern. Daher ist es gerade kein Wunder, daß die amerikanischen Abgeordneten ihre Koffer packen und im Begriff stehen, nach Hause zu gehen. Alle amerikanischen Delegierten weisen, falls sie nach Hause zurückkehren, jede finanzielle und wirtschaftliche Hilfe für die widerspenstigen Nationen zurück. Wahrscheinlich wird die Lage, ohne daß Präsident Wilson dieses anordnet, wiederhergestellt, aber die amerikanischen Abgeordneten haben keine Lust, ruhig zuzusehen, wie die Befehle der Konferenz durch die rumänischen Verbündeten wegwerfend behandelt werden.
Rumänien trotzt der Entente.
Der Konflikt mit Rumänien ist durch die Teilung des Temesvarer Banats unter Rumänien und Südslawien verschärft. Rumänien hat kurzerhand die Wiederherstellung der Eisenbahnbrücke über die Save zwischen Belgrad und Semlin, die Ende Dezember fertig sein sollte, unterbrochen, das ganze Banat besetzt und die Ausfuhr der von einer Temesvarer Firma gelieferten gesamten Brückenbestandteile an Serbien verboten. Gerade die zerstörte Brücke bildet das einzige Hindernis für einen direkten Verkehr zwischen Paris, Konstantinopel, Saloniki. Das Auftreten von Rumänien richtet sich daher gegen die Wiederaufnahme der Zugverbindung mit dem Orient. Der oberste wirtschaftliche Rat der Alliierten hat daher beschlossen, daß angesichts der Haltung Rumäniens alle Verträge mit Rumänien bezüglich Waffen und Kriegsmaterial aufgehoben werden. Rumänien wird vorderhand keinerlei Material dieser Art von der Entente erhalten. Da Rumänien trotz aller Vorstellungen der Entente fortwährend seinen Aufmarsch auf ungarischem Gebiete fortsetzt und die Wegführung von allerlei Nahrungsmitteln bis jetzt nicht eingestellt hat, hat die Entente auch die Belieferung Rumäniens mit Lebensmitteln eingestellt. Die Regierung in Belgrad erließ ein Ausfuhrverbot für Waren nach Rumänien, und Rumänien zog an seiner Grenze im Banat gegen 15 Divisionen zusammen. Die Belgrader Regierung telegraphierte nunmehr an ihre Botschaft in Paris, daß Südslawien bereit sei, die Volksabstimmung für den ganzen Banat als verbindlich anzuerkennen.
Drohende Kriegsgefahr zwischen Belgien und Holland.
Bedeutend ernster als der Konflikt auf dem Balkan ist augenblicklich die Spannung zwischen Holland und Belgien, die die Gefahr eines Kriegsausbruches in drohende Nähe rückt. Die belgischen Abgeordneten der in Paris tagenden Kommission zur Revision der Verträge von 1839 haben ihre Abreise nach Brüssel bereits beschlossen. Holland soll als Antwort auf die belgischen Forderungen erklärt haben, daß es jeden Versuch der Belgier, irgendwelche Punkte zu besetzen, die ihm die geplante neue Grenzfestsetzung zugestehe als Kriegsfall betrachten werde. Die holländischen Delegierten sind nach dem Haag abgereist, um neue Unterweisungen von ihrer Regierung einzuholen. Die Friedenskonferenz hat sich bereits eingehend mit dem Streitfall beschäftigt.
Keine Einigung über die Schantungfrage.
Durch die erneute Aufrollung der Schantungfrage durch den amerikanischen Senat sind auch im Osten neue Verwicklungen zu erwarten. Unter dem Druck der Republikaner, die eine Rückgabe des von den Japanern beanspruchten Schantunghafens an China fordern, sucht Wilson auf die japanische Regierung einzuwirken, daß sie ein bestimmtes Datum bekannt gebe, zu dem China die Rückerstattung Schantungs erwarten könne. Man zeigt sich jedoch in Tokio auch diesem Vermittlungsvorschlag nicht geneigt.
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Inzwischen kommt die Ratifikation des Friedensvertrages mit Deutschland um keinen Schritt vorwärts. Die französische Kammer hat ja nunmehr den Friedensvertrag mit Deutschland ratifiziert. Die Inkraftsetzung des Vertrages kann jedoch erst eintreten, wenn außer England und Frankreich noch eine dritte Großmacht dem Vertrage zustimmt. Daran ist aber vorläufig noch nicht zu denken. Der amerikanische Senatsausschuß für auswärtige Angelegenheiten hat bereits verschiedene Abänderungen an dem Vertrage vorgenommen, so wurde u.a. mit 9 gegen 7 Stimmen ein "Verbesserungsantrag" angenommen nach dem die Vereingten Staaten sich an der internationalen Kommission zur Festsetzung der Grenze zwischen Belgien und Deutschland nicht beteiligen sollen. Der Ausschuß hat ferner eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen angenommen, durch die die Vereinigten Staaten von der Vertretung in anderen Kommissionen ausgeschlossen werden, da andernfalls zahlreiche Aenderungen im Friedensvertrag notwendig werden würden. Der Ausschuß für Wiedergutmachung wurde indes hiervon ausgenommen. Präsident Wilson ist in heller Verzweiflung über die Aenderung seines Vertrages. Um die unbotmäßigen Senatoren vor weiteren Verbesserungen des berüchtigten Dokumentes zurückzuschrecken, droht er damit, daß die Vereinigten Staaten im Falle der Bestätigung der Ausschußbeschlüsse durch den Senat benötigt sein werden, einen Sonderfrieden mit Deutschland zu schließen und aus dem Völkerbund auszutreten. Doch wird sich der Senat zur Ratifikation des Vertrages ohne die bekannten Vorbehalte wohl kaum entschließen. Die Beratungen werden sich auf jeden Fall noch eine ganze Zeit lang hinausziehen.
Quelle:
Rhön-Zeitung Nr. 202 vom 30.8.1919
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00172672/RhoenZ_1919-0745.tif
Bild 1:
https://de.wikipedia.org/wiki/Rum%C3%A4nien#/media/Datei:Deutschsieben_bürgen-de.svg
Bild 2:
https://de.wikipedia.org/wiki/Ungarisch-Rum%C3%A4nischer_Krieg#/media/Datei:Tropas-rumanas-ocupan-budapest-1919--outlawsdiary02tormuoft.png