Die Verfassung - neun Monate im Bauch
Die sozialdemokratische Volkszeitung aus Weimar sieht ein, dass die Verfassung als Kompromiss selbstredend nicht perfekt ist. Aber trotz aller Kritik ist das Werk der Nationalversammlung gleichbedeutend mit der zentralen Forderung der Sozialdemokratie: der Volkssouveränität. Wie ein Baby sei das Verfassungswerk vom November 1918 bis August 1919 herangereift. Dieses Baby gegen Angriffe von rechts wie links zu schützen sei daher die Ehrenpflicht der deutschen Arbeiterschaft.
Volltext:
Zum Abschluß des Verfassungswerkes.
Das deutsche Volk hat jetzt wieder eine Verfassung, und zwar keine vorläufige mehr, sondern eine endgültige und dauernde, soweit menschlichem Werk überhaupt Dauer beschieden ist. Wie alles Menschenwerk trägt auch diese Verfassung den Stempel der Unvollkommenheit an sich, und es bedarf keiner großen Geschicklichkeit, um durch Häufung von Tadel im einzelnen ein übles Urteil über sie zu fällen, aber ein ehrlicher und vernünftiger Mensch wird unmöglich bestreiten können, daß unter dieser Verfassung, welche Mängel ihr auch anhaften mögen, ein Volk in Freiheit leben und sich zum Wohlstand entwickeln kann. Der Aufstieg zu jenen Höhen gesellschaftlicher Entwicklung, die uns als unser sozialistisches Endziel vorschweben, ist mit ihr nicht vollzogen, aber seiner Vollendung sind, soweit es an ihr liegt, die Steine aus dem Weg geräumt. Wir können nicht wie der Gott der Legende am siebenten Schöpfungstage ausruhen und sehen, daß es gut ist, aber wir können sagen, daß wir ein überaus schwieriges und entscheidend wertvolles Stück unserer Arbeit hinter uns haben.
Es ist die größte Gefahr der Revolutionen, daß sich die durch sie entstandenen Körperschaften in endlosen, unfruchtbaren Beratungen verzetteln. Das Beispiel der Frankfurter Paulskirche und de verschiedenen russischen Dumen steht uns da warnend vor Augen. Bewahrt aber die aus der Revolution hervorgegangene Körperschaft keinen festen Willen, bringt sie nichts Positives zustande, dann besteht die Gefahr, daß irgend eine rohe Gewalt die Zügel an sich reißt und die Ansätze einer neuen Ordnung zerstört. Ein terroristisch auftretendes Parteiführertum ist dann nicht weniger gefährlich als die Gewaltmänner des alten Regimes.
Die neue Verfassung konstitutiert den Staat des deutschen Volkes, das Deutsche Reich, als eine durch und durch demokratische Republik. Sie kennt keine andere Staatsgewalt als diejenige, die aus dem Willen des Volkes selbst hervorgeht und durch diesen ständig erneuert wird. Das Volk erhält damit volles Selbstbestimmungsrecht, das von den stärksten staatsbürgerlichen Garantien umgeben ist. Wenn auch noch nicht das ganze sozialdemokratische Programm, so ist doch sein politischer Kern- und Grundsatz verwirklicht: Des Volkes Wille ist das oberste Gesetz.
Seit dem November 1918 sind noch keine neun Monate verflossen, das Werden der neuen deutschen Staatsform hat nicht länger gedauert, als ein menschliches Leben zur Entstehung braucht. War der 9. November der Empfängnistag der neuen deutschen Freiheit, so ist der Tag, an dem die Nationalversammlung die Verfassung beendete, ihr Geburtstag.
Menschlich ist es gewiß und allzu begreiflich, wenn über das Erreichte in den Massen der Bevölkerung noch keine rechte Befriedigung aufkommt. Zu entsetzlich schwer drückt die Last des verlorenen Weltkrieges und drücken die darauf entstandenen wirtschaftlichen Verhältnisse auf uns, als daß wir uns der ungetrübten Freude an einem leidlich gelungenen Werk der formalen Verfassungsgebung hingeben könnten. Eine spätere rückschauende Betrachtung wird aber gerechter urteilen und die große, vorausschauende Arbeit zu würdigen wissen, die die politische Organisation der deutschen Arbeiterklassen, die deutsche Sozialdemokratie, in diesen Monaten der größten weltgeschichtlichen Entscheidungen geleistet hat.
Schon heute aber muß von den breiten Massen des arbeitenden Volkes klar ins Auge gefaßt werden, was das Zustandekommen des Verfassungswerkes bedeutet. Die Verfassung ist das Grundrecht des deutschen Volkes, aus seinem Willen selbst entsprungen, durch seine Macht selbst geschützt. So müssen die Arbeiter stets bereit sein, in die Schranken zu treten, um die Deutsche Republik, die deutsche Volksherrschaft gegen monarchistischen Umsturz zu verteidigen, sie müssen aber auch einsichtig genug sein, zu verstehen, daß die freiheitliche Verfassung auch gegen phantastische Umsturzpläne der Terroristen und Diktatoren von ganz links geschützt werden muß. Je fester die Arbeiterschaft ihren Willen bekundet, treu zur republikanisch-demokratischen Staatsform zu stehen und in ihrem Rahmen den Weg zur sozialistischen Gesellschaftsordnung zu suchen, je besser das neue Haus durch den Willen und die Einsicht seiner Bewohner selbst geschützt ist, desto früher wird es möglich sein, jene Balken und Zäune zu entfernen, die das klare Antlitz der Fassade verzerren und zum konstruktiven Grundgedanken des Ganzen in abstoßendem Gegensatz stehen. An dem Tag, an dem sich die ungeheure Menge des arbeitenden Volkes unter dem Banner der demokratischen Republik vereint, um unter ihm zu dem Ziele des Sozialstaates vorwärts zu marschieren, wird auch der Belagerungszustand für immer erledigt sein. Den neuen Reichsbau so rasch wie möglich von der Notwendigkeit solcher Stützpfeiler zu befreien, das ist jetzt die geschichtliche Aufgabe, die Ehrenpflicht der deutschen Arbeiterklasse.
Quelle:
Volkszeitung für Sachsen-Weimar-Eisenach Nr. 178 vom 2.8.1919
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00212318/WVZ_1919_07-09_0383.TIF?logicalDiv=jportal_jpvolume_00145869
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Weimarer_Verfassung#/media/Datei:Weimar_Constitution.jpg