Harry Graf Kessler: "Das Reich geht zum Teufel"
Aus Warschau zurückgekehrt zitiert Kessler zunächst einen Leitartikel, der sich mit der Besetzung des Auswärtigen Amts mit dem Grafen Ulrich von Brockdorff-Rantzau beschäftigt. Ein gewisser Neid ist erkennbar, da Graf Kessler natürlich sich selbst für den besseren Kandidaten hielt. Danach schildert er seine Eindrücke von dem Aufstand der Matrosen in Berlin, den er anfangs erst gar nicht mitbekommt und erst im Nachhinein die große Entscheidungsschlacht zwischen Demokratie und Spartakus deutet.
Volltext:
23 Dezember. 1918. Montag. Berlin.
L. Stein Vormittags bei mir im Amte, um mir zu sagen, dass Heinrich Carolath mir seinen Sitz in Guben für die Nationalversammlung abtritt. - Georg Bernhard spielt in einem übrigens vorzüglichen Leitartikel auf meine Chancen für das Staatssekretariat an.
Völkerpolitik.
Von Georg Bernhard.
An die Stelle des Staatssekretärs Solf ist als Leiter des Auswärtigen Amtes der Graf Brockhoff-Rantzau getreten. Daß es wieder ein Graf ist, hat die Spottlust der radikalen Sozialisten angeregt. Sie hätten noch mehr spotten können: Denn einzig und allein zwischen drei Grafen hat die engere Wahl gelegen. Aber will man Demokratie, so muß man schon wohl oder übel auch den Grafen die Gleichberechtigung zuerkennen. Man braucht sie zudem fünf Wochen nach dem Sturz eines Regimes, das die diplomatische Laufbahn fast restlos dem Adel vorbehalten hatte.
Dieses kann mir in der Zukunft Unannehmlichkeiten beim ehrgeizigen und mistrauischen Charakter von Rantzau bereiten. -
Frühstück bei Hiller gegeben für Hoetzsch von der Kreuzzeitung und den Generalkonsul Heintze aus Lemberg. Heintze erzählte von seinen Abenteuern bei der Einnahme durch die Polen, aber etwas zu eindringlich und gewinnsüchtig. Hoetzsch machte sich Notizen über die Parteiverhältnisse in Polen für seinen Leitartikel. Er giebt Ludendorff die Hauptschuld an unserem Zusammenbruch, namentlich wegen der Umgebung, die er sich gewählt hatte: Bartenwerfer, Bauer, Nicolaï. Diese Drei waren in der Tat die Totengräber Deutschlands. Nachher Sitzung unseres Ausschusses für Auswärtige Politik: Prittwitz, Roediger, Schott u.s.w. Ich warf die Frage auf, ob und welche Ausw. Politik wir jetzt haben könnten? Auch mit welchen Methoden die neue Politik durchzuführen sein werde, nachdem mit der alten Machtpolitik die ihr angepassten bisherigen Methoden mit unbrauchbar geworden seien? Als ich gegen fünf mit Roediger aus der Deutschen Gesellschaft ins Amt hinübergieng, bemerkten wir an der Tür eine Auseinandersetzung zwischen bewaffneten Matrosen und irgendwelchen Leuten, die aus dem Amte herauswollten. Wir achteten nicht darauf und giengen hinein. Gleich nachher hiess es, das Amt sei durch Matrosen abgesperrt, Niemand könne mehr aus noch ein. Der Grund war nicht zu ermitteln. Bussche gieng durch die Verbindungstür im ersten Stock ins Reichsamt des Inneren, um Hülfe zu erbitten. Ich korrigierte meinen Bericht über Polnische Politik zu Ende und gieng dann gegen halb Sieben ebenfalls durch das Reichsamt des Inneren fort, die Linden hinauf nach der Friedrichstrasse ins Admirals Bad. Unter den Linden und in der Friedrichstrasse war Alles wie gewöhnlich, keine Unordnung oder Unruhe, obwohl wenige Minuten vorher die Schiesserei gewesen sein muss, von der ich erst später erfuhr. Abends gegen Zehn hiess es, irgendwo sei wieder eine Schiesserei gewesen; es gebe 20 Tote. Die Einen sagten, am Potsdamer Bahnhof, die Andren am Alexanderplatz. Ich fuhr nach dem Alexanderplatz, um zu sehen, was los war, und bekam hier die richtige Auskunft, die Schiesserei sei in der Nähe des Schlosses gewesen. Am Marstall standen Gruppen von Matrosen, die erzählten, ihre Kameraden seien vor die Kommandantur gerückt, um Löhnung zu fordern, plötzlich sei von der Universität auf sie geschossen, zwei Mann tot; darauf hätten sie den Stadtkommandanten Wels verhaftet und in den Marstall abgeführt. Dieses sei gegen Acht gewesen. Als ich die Linden hinunter an die Universität kam, rückte in der Dunkelheit ein Regiment in Sturmhauben vor. Grosse, schöne Leute, in denen ich erst nach einiger Zeit Dritte Garde Ulanen, mein eigenes Regiment, erkannte. Einige junge Offiziere, Schimmelmann, Kriegsheim, erzählten, Ebert habe sie hergeholt und vorhin eine Ansprache gehalten. Halb zerlumpte Soldaten von der Strasse und Zivilisten drängten sich währenddem an die Mannschaften und redeten auf sie ein: Keine Antwort von unseren Leuten, die schwiegen. Nach einigen Minuten kam ein Befehl und die Truppe verschwand geschlossen in die Universität. Ich hatte mein Regiment seit August '14 vor Namur nicht gesehen. Ein trauriges Wiedersehen in dieser konfusen, gefahrschwangeren Revolutionsnacht am Rande des Bürgerkrieges und der Auflösung. -
An der Ecke der Linden und der Friedrichstrasse standen kleine Haufen von Menschen und diskutierten. Zivilisten, Soldaten, einige Matrosen. Die Stimmung war im Allgemeinen auch unter den Soldaten gegen die Matrosen: „sie sollten machen, dass sie fortkämen, sie seien lange genug in Berlin gewesen". Schliesslich verhafteten ein paar Matrosen einen Zivilisten, der sie beschimpft hatte. Alles sehr ruhig, fast kleinlaut. Ich gieng noch einmal bis zum Kronprinzen Palais. Hier diskutierte ein Leutnant mit einem älteren Maat. Der Maat sagte, Wels würden sie nicht wieder herausgeben: „ausgeschlossen, nachdem durch seinen Befehl Kameraden gefallen seien". Der Leutnant erwiderte immer wieder: Ebert habe Wels um Hülfe ersucht, weil die Matrosen die Reichsleitung festgesetzt hatten. Hiervon wollte der Maat Nichts wissen, sondern nur von Löhnungsforderungen, diese hätten die Matrosen vor der Kommandantur vorgebracht, da sei auf sie geschossen worden. Erst durch dieses Gespräch wurden mir die Vorgänge des Nachmittags klar. Nicht nur wir im Auswärtigen Amte sind von den Matrosen eingesperrt worden, sondern auch die Reichsleitung in der Reichskanzlei und dazu noch Andre Behörden. Darauf hat Ebert militärische Hülfe requiriert; die Matrosen sind unter dem Vorwande einer Löhnungs Demonstration von irgendwelchen Drahtziehern vor die Kommandantur gelockt worden, Wels oder der Kommandeur der Truppen in der Universität wird geglaubt haben, die Kommandantur werde gestürmt, und kurzentschlossen ist geschossen worden. Jetzt ist aber die Situation durch diese Schiesserei, das geflossene Blut und den Einmarsch der Potsdamer Truppen reif für eine grosse Entscheidung. Wenn die Regierung Energie hat, wird sie sie benutzen, um die ganz radikalisierte Matrosen Division aus Berlin hinaus zu bringen; wenn nötig mit Gewalt. Die überwiegende Stimmung unter den Soldaten und der Zivilbevölkerung Berlins ist den Matrosen feindlich, weil man sie als Unruhestifter ansieht. Radikal sind sie aber erst geworden nach Aufdeckung der Komödie, die Metternich mit ihnen gespielt hat. Diese hat den Nährboden für die Spartacus Propaganda unter ihnen geschaffen. --
Jeden Tag ist auf den Strassen Berlins Etwas Neues los; aber das Reich geht dabei zum Teufel.
Quelle:
Riederer, Günter, Hilse, Christoph (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Sechster Band 1916-1918, Stuttgart 2004, S. 702 - 704.