Jenaische Zeitung: Lasst die Parteipolitik und handelt!
Die rechtsstehende Jenaische Zeitung zieht nach zwei Wochen Nationalversammlung eine erste Bilanz über deren Debattenkultur. Die darin sichtbar werdende fundamentale Kritik am Parlamentarismus - hier noch sehr moderat im Ton - ist im rechten Parteispektrum durchaus die Norm. Minister, die im Parlament mit Abgeordneten debattieren, sind aus dieser Sicht ein Graus, welcher die Einheit der Nation gefährdet.
Volltext:
Vierzehn Tage Nationalversammlung.
Zwei Wochen lang tagt nun das Parlament, das amtlich den Namen führt: Verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung. Das deutsche Volk erwartete von ihm baldigen Frieden, Brot, Ruhe und Ordnung, Wiederaufbau, Begründung eines neuen Volksheeres als Grundlage der staatlichen Macht. Das Parlament hat in den beiden ersten Wochen zwei Aufgaben rasch erledigt: Die provisorische Verfassung und die Präsidentenwahl. Aber die Volksvertretung wird sich nicht darüber täuschen, daß man im Volke diese Formalitäten nur gering bewertet. Von den oben genannten praktischen Aufgaben, deren Lösung sich in unserem staatlichen Leben wirksam zeigen würde, ist mit Mühe erst eine der Lösung zugeführt: die Finanzvorlage. Das Geheimnis dieser Tatsache wird offenbar, wenn man die Etatreden der letzten Tage ansieht. Diese Reden sind zum großen Teil ganz schön (das Lesen ist allerdings oft amüsanter als das Hören), aber sie verpflanzen eine Gepflogenheit des Reichstages in ein ganz anders geartetes Parlament. Im Reichstag mag es zu verstehen sein, wenn zum Etat jeder Redner die große und kleine Welt durchirrt und von Dingen redet, die ihn nur selbst interessieren. Es ist das ein geheiligtes Recht, die Minister hören ergeben zu, und die Zeit drängt ja nicht so sehr. Aber die Nationalversammlung weiß, daß das ganze Volk von ihr rasche und sachliche Arbeit erwartet, sie sollte dem Rechnung tragen durch größere Konzentration der Reden. Die sachlichste Rede hat von den Abgeordneten bisher Dr. [Albert] Vögler gehalten zur Begründung der Interpellation der Deutschen Volkspartei. Die meisten anderen Abgeordneten sind viel zu sehr in die Breite gegangen, sie haben Wahlreden gehalten und ihr Parteiroß vorgeritten, anstatt aus der neuen Lage und der Besonderheit der Nationalversammlung den Mut zu einer Neugestaltung auch des parlamentarischen Betriebes zu schöpfen. Leider muß auch gesagt werden, daß die Reden in ihrer Mehrzahl inhaltlich einen Vergleich mit den Reden der Paulskirche nicht vertragen. Die Reden des Grafen [Arthur] von Posadowsky[-Wehner, DNVP, Anm.], der Herren [Wilhelm] Kahl [DVP, Anm.], [Gottfried] Traub [DVP, Anm.] und einiger anderer erhoben sich zu geistiger Höhe, die meisten anderen blieben im ausgefahreren Geleise der Wahlreden. Das Unleidlichste war, daß sich fast bei jeder Rede das Spiel wiederholte: Ihr seid schuld - nein Ihr seid schuld - usw., bis ins Unendliche, und daß sich an diesem Streit auch regelmäßig die Ministerbänke munter beteiligten.
Geschehenes ist geschehen; aber sollte es nun nicht genug sein? Es gibt keinen Menschen mit fünf gesunden Sinnen, der dieser Debattenkultur nicht gründlich überdrüssig wäre. Nun laßt uns endlich Taten sehen! Die Parteien befinden sich, wie nicht verkannt werden soll, in einer Zwangslage, denn so lange sie angegriffen werden, so lange auch die Regierungsmänner in die Arena herabsteigen, müssen sie antworten und der Zank geht ohne Ende weiter. An der Regierung liegt es daher, Schluß zu machen. Sie muß nun endlich der furchtbaren Notlage unseres Volkes gerecht werden, das Trennende zurückstellen und eine Einigung suchen. Kann sie das nicht, so würde sie damit den Beweis erbringen, daß die parlamentarische Regierung sich nicht aus der Niederung der Parteipolitik zu erheben vermag, es würde das ein schlechtes Zeugnis sein für diese Errungenschaft der neuen Zeit. Was uns not tut, sind geschlossene Kundgebungen des gesamten Parlaments für diejenigen Ziele, in denen sich alle Parteien einig sind: Rasche Erreichung eines gerechten Friedens, Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen, Arbeits- und Verdienstmöglichkeit, Anerkennung der deutschen Gleichberechtigung im Zusammenleben der Völker. Auf diese Punkte das gesamte Parlament zu einigen, wäre eine dankbare Aufgabe der Regierung. Den Parteien aber darf man wohl raten, ohne sie betrüben zu wollen, daß sie das Redebedürfnis einschränken. Lange Reden wirken in der jetzigen Zeit nicht! Wir haben schon viel zu viel geredet, wo wir handeln mußten. Vielleicht kommt auch einmal eine Zeit wieder, in der die Deutschen Zeit, Luft und Laune haben, schöne Reden zu würdigen. Jetzt ist die Zeit schlecht dazu geeignet, denn noch sind wir ringsum von Feinden bedroht, im Innern drohen Arbeitsnot und Hunger, und noch ist nicht einmal die nächste Ernte gesichert. Daher gilt es jetzt nicht zurück- sondern vorwärts zu blicken.
Quelle:
Jenaische Zeitung Nr. 46 vom 23.2.1919
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00246815/JZ_Jenaische_Zeitung_169419428_1919_0241.tif
Bild:
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