Dem Staat gegenüber sind wir alle amoralisch
Klemperer berichtet von seiner Frau Eva, der es gut zu gehen scheint, die jedoch nicht in seiner Nähe ist. Er schreibt von gesellschaftlichen Zusammenkünften, die ihn nachhaltig langweilen. Eine Ausnahme gibt es jedoch: einen gut aussehenden Herren, der mit Pässen handelt, die einem jegliche Freiheiten gewähren. Klemperer ist interessiert.
Volltext:
Dienstag Nacht gegen 12 Uhr. 15 Juli 19.
Zwei ausführliche Briefe von E., es geht ihr offenbar gut. - Morgens interessantes Bibliothekscolleg über Kataloge und Derartiges. Dann den Vormittag zur Vorbereitung meiner Vorlesung benützt. Die Dramen bis Ruy Blas abgetan. Meine Collegs sind gut, das wenigstens darf ich mir sagen. An E. geschrieben. Nach der Vorlesung sehr müde. Ein erstes bißchen die morgige Stipendiatenprüfung vorbereitet, denn mein Colleg über das 17. Jh. ist mir doch ein wenig entfallen; ein paar Seiten in Morfs Überblick gelesen ... Nach dem Abendbrod zu Meyerhofs, dort erst sehr langweilige lästige Leute, Hamburger Juden, die natürlich meine dortige Verwandtschaft kannten – peinlich! Hernach aber ganz angeregt allein mit M.'s u. dem anständigen (natürlich auch schiebenden) langen Hamecher. Nach einer Weile – Elena hatte uns kaffee gekocht - erschien ein junger frischer hübscher Mensch von vielleicht 20 Jahren in Uniform eines Offiziers ohne Achselstücke mit EK II, sächsischem Augustband, Verwundeten- u. Fliegerabzeichen. Es war von großen vielseitigen Geschäften die Rede: Strümpfen, Hosenträgern, Seife, Cigarren, von einer Reise nach Darmstadt und Frankfurt. Bestes Benehmen, Vertrauen erweckend. Welcher Truppe er angehöre, fragte ich. »Gar keiner« war die ruhige Antwort, obwohl doch das Uniformtragen verboten ist. Gleich darauf hörte ich, daß der Junge auch mit den Noskeausweisen handelt. (Ich sah mir den Ausweis nachher noch einmal an. »8. Husarenregiment. Inhaber ist Angehöriger eines Freicorps. Regierungstruppen, Berlin. Gez. Noske. Er darf Waffen tragen. Alle Behörden werden ersucht, ihn ungehindert ... U. zu unterstützen« Drei Stempel. Raum für Unterschrift und Photographie.) Damit kann man sich in ganz Deutschland frei bewegen, kann auf Militärkarte (u. somit für 4 od 5 M.) bis Berlin fahren, kann in Kasernen u. sich dort verpflegen lassen. Gut zum Handel u. zur Agitation. Die 80 M. kommen gewiß bei ein paar Reisen schon heraus. Es braucht nichts Hochverräterisches dabei zu sein. Einen Urlaubsschein übrigens gibt es schon für 25 M. Hans verschafft mir vielleicht einen für Driburg ... Als der Junge fort war, erzählte er, es sei einer aus einer Gesellschaft von 20, hinter denen Berliner Geldgeber ständen; sie kauften schleichhandelnd in großem Maßstabe für Berlin! - [...] Nirgends sehe ich so tief in die vollkommene Zerrüttung unseres öffentlichen Lebens, in seine grenzenlose Russificierung hinein, wie bei Hans. Dem Staat gegenüber sind wir alle amoralisch geworden. Es gibt ja auch gar keinen Staat mehr. – Durch unaufhörlich u. mächtig strömenden Regen heim.
Quelle:
Nowojski, Walter (Hrsg.), Victor Klemperer. Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918 - 1924, Berlin 1966, S. 148.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Klemperer#/media/Datei:Klemperer--bild--um1930.jpg