Sehr geehrter Herr Arbeiterverräter, ...
Die parlamentarische Demokratie ist in den thüringischen Staaten bereits etabliert. Was aber nicht heißt, dass die Rätebewegung bereits tot ist. Während die Soldatenräte mangels Soldaten bereits seit Monaten aufgelöst sind, gibt es noch hier und da Arbeiterräte. Diese machen der parlamentarischen Regierung das Regieren streitig und scheuen sich auch nicht den amtierenden Innenminister August Baudert anzugreifen, obwohl dieser aus der SPD stammt. Der Frevel: eine Koalition mit dem "Klassenfeind" - der linksliberalen DDP.
Volltext:
Offener Brief an Herrn Staatsminister Baudert, Weimar!
Niemand kann zweien Herren dienen! Indem Sie mit Parteien, die aus Gründen reaktionärsten Klasseninteresses in feindlichster Stellungsnahme gegen die Arbeiterschaft verharren, sich zu gemeinsamer Arbeit zusammengetan, haben Sie sich zugleich entschieden, welchem Herrn d.h. welchem Teile des Volkes Sie dienen wollen und dienen müssen: dem gegenrevolutionären Bürgertum! Das bedeutet freilich einen traurigen Abschluß Ihrer Lebensarbeit, aber glücklicherweise bedeutet es keinen Abschluß der Arbeiter- und Rätebewegung!
Dem Beispiele größerer Vorbilder folgend, suchen Sie neuerdings diejenigen Arbeiterräte, die mehr als Gendarmerie-Gehilfen sein wollen, aus der Welt zu reden!
Aber wie ehemals die Reden der großen Sozialisten-Fresser nur komisch auf uns wirken konnten, genau so wirken heute auf uns die Reden der Arbeiterräte-Fresser, denn im alten Eisen werden sie bald jenen Gesellschaft leisten!
Wenn Sie sich im besonderen mit dem Arbeiterrat Jena beschäftigen und zu gleicher Zeit erklären, daß er eigentlich gar nicht mehr vorhanden sei, so machen wir Ihnen die Mitteilung, daß bis heutigen Tags der Arbeiterrat Jena, aus allen drei sozialistischen Parteien bestehend, hier noch besteht und die Befugnisse, die ihm zustehen und in deren Rahmen er bisher gehandelt hat, auch weiter uneingeschüchtert auszuüben gedenkt.
Wenn seinerzeit die Fraktion der SPD ihr Mandat in die Hände der Arbeiterschaft zurücklegte, so erklärte sie aber gleichzeitig in derselben Veröffentlichung, bis zur Neuwahl des Arbeiterrates die Geschäfte weiterzuführen.
Das vom Berliner Zentralrat zu der Zeit in Aussicht gestellte neue Wahlreglement ist bis heute noch nicht herausgekommen. Nach einem früher gefaßten Beschluß des Arbeiterrates sollte aber eine Neuwahl bis zur Bekanntgabe dieses neuen Reglements vermieden werden, weil die bestehenden Richtlinien den Interessen der Arbeitschaft schnurstracks zuwiderlaufen.
Was in Ihren Reden Ihre sonstigen Bemühungen betrifft, den Behörden und Beschwerdeführern (Bürgerrat Jena!) klarzumachen, daß diese sich durch den Arbeiterrat in ihrem Tun nicht beirren lassen sollen, diese zweckbewußten Kundgebungen beachten wir nur insofern, als wir sie hiermit der Arbeiterschaft zur Kenntnisnahme niedriger hängen.
Der Arbeiterrat Jena.
Quelle:
Jenaer Volksblatt Nr. 159 vom 11.7.1919
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00259082/JVB_19190711_159_167758667_B1_002.tif?logicalDiv=jportal_jparticle_00636772
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/August_Baudert#/media/Datei:WP_August_Baudert.jpg