Unübersichtliche Zeiten
Es mag vielleicht anders wirken, aber die Weimarer Republik mit all ihren Krisen und Turbulenzen ist verglichen mit ihren europäischen und atlantischen Nachbarn fast schon eine Oase der Ruhe. Nationalismus in Polen und Frankreich, Krieg in Ungarn, Spannungen zwischen den USA und Mexiko... Es sind unübersichtliche Zeiten, in denen auch die USA sich lieber in Isolationismus flüchten, statt internationale Verantwortung zu übernehmen.
Volltext:
Polen: Krisis in Polen.
General Dowbor-Musnicki hat bei dem polnischen Obersten Volksrat telegraphisch sein Entlassungsgesuch als Oberkommandierender eingereicht. - Der Minister der öffentlichen Arbeiten, Pruchnik, hat wegen heftigen Angriffen im Landtage seine Demission gegeben. - Der polnische Landtag nahm vor kurzem mit beträchtlicher Stimmenmehrheit den § 7 der Agrarreform an, der die Verstaatlichung des gesamten Waldbestandes in Polen bestimmt. Nach Angaben landwirtschaftlicher Vereine in Krakau und Lemberg hat der bäuerliche Grundbesitz in Galizien 80 v.H. seines Viehbestandes verloren.
Frankreich: Ein neuer Sturmlauf gegen Clemenceau.
Barthou, der Generalberichterstatter des Friedensausschusses der Kammer, gedenkt in seinem Berichte interessante Enthüllungen über die Haltung Clemenceaus in der Frage der rheinischen Grenze zu machen. Die Gegner Clemenceaus beabsichtigen, aus Anlaß der Diskussion dieses Berichtes neuerdings Sturm gegen das Kabinett Clemenceau zu laufen. Die Opposition wird in diesem Falle gestellt von den nationalistischen Kammermitgliedern.
Ungarn: Serbisch-französischer Angriff gegen Ungarn vorbereitet.
Reuter vernimmt, daß alle Maßnahmen für einen serbisch-französischen Angriff in die rechte Flanke der Armee Bela Khun getroffen seien, falls dieser den Bedingungen der Alliierten nicht nachkommen sollte. Die Entente fordert von Bela Khun, daß er zurücktritt und einer freigewählten Volksregierung Platz macht. Die rote Armee [Ungarns, Anm.] wird von den Rumänen bereits hart bedrängt.
Vereinigte Staaten: Amerika gegen Mexiko.
Das Kongreßmitglied Hudspick hat einen Antrag eingebracht, der verlangt, daß Amerika die Anerkennung Caranzas als Präsident von Mexiko aufgeben und Mexiko militärisch besetzen soll, bis dort eine zuverlässige Regierung gebildet werden kann. - Eine Verordnung Wilsons verbietet die Ausfuhr von Waffen aus den Vereinigten Staaten nach Mexiko mit der Begründung, daß in Mexiko ein Zustand der Gewalttätigkeit bestehe, der durch die Einfuhr von Waffen verstärkt werden würde.
[...]
Wilson beugt sich dem Willen des Senats.
Wilson hat angeblich versprochen, die Vorbehalte der gemäßigten Republikaner gegen den Friedensvertrag und das Statut des Völkerbundes in ernste Erwägung zu ziehen. Die Vorbehalte betreffen vornehmlich die Abmachung mit Japan bezüglich Schantungs [d.i. Shandong in China, Anm.], die Monroedoktrin, die Einwanderungsgesetze und das Recht Amerikas, sich zu jeder Zeit bedingungslos von dem Völkerbund zurückzuziehen zu können - Wie der "Secolo" aus Paris erfährt, herrscht in den dortigen politischen Kreisen nicht geringe Sorge wegen der Haltung des amerikanischen Senats, sowohl in der Frage des Friedensvertrages, als auch bezüglich des Bündnisses zum Schutze Frankreichs. Eine Ratifikation des Friedensvertrages erscheine für Frankreich so lange unangebracht, wie die völlige Tragweite der vom amerikanischen Senat beabsichtigten Abänderungen unbekannt sei.
Quelle:
Rhön-Zeitung Nr. 175 vom 30.7.1919
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00172672/RhoenZ_1919-0645.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00199018
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Woodrow_Wilson#/media/Datei:Big_Four.jpg